Full text: Heimatschollen 1926-1928 (6. Jahrgang - 8. Jahrgang, 1926-1928)

Ich jehe sie noch sihen, die Annelore. Mitten im Spinnstuben- 
breis saß sie, eifrig strickend. Su beiden Seiten Ringellöckchen auf 
der Stirn., ihre strahlenden Blauaugen bedeckend. sodaß sie oft 
VKichard Sprick: Dalentin Traudt. Phot.C. Achenbach, Kassel. 
diese widerspenstigen Haarringlein mit den blanken Strickstöcken 
zurechtweijen mußte. Dabei flossen ihre Worte wie blinkend Silber 
von ihren Lippen, während die blitzenden Strickstöcklein ganz allein 
X— 
Zu den interessantesten ihrer Erzahlungen gehörfen die grausige 
Geschichte vom Forstläufer Lenz und die Sagen vom „Predigerstuhl“ 
und den „Wichtelrainen“, die Lore am Schlusse meiner „Erinne⸗ 
rungen“ erzählen soll. 
Gern träum' ich als Kind mich zurũck und erinnere mich oft 
der Spinnstubenbilder in unserem Hause. Ich mochte damals wohl 
8-10 Jahre zählen; meine Schwester, die die „Spinnstuben“ ab⸗ 
hielt, 20 Jahre. Es waren etwa 12-215 Mädchen, die mit meiner 
Schwester bonfirmiert worden waren, und die dann eine „Votte“ 
hildeten. Es gab damals in meinem Heimatort wohl so jolcher 
Spinnstubenrotien. Ein Anterschied nach arm oder reich gab es 
nicht; niemand dachte daran. Jedes dieser Dorfmädel nahm die 
Kameradinnen 82514 Tage in der elterlichen Wohnung auf, und 
es war für mich immer eine große Freude, wenn ich hörte, daß 
die Reihe wieder an uns war. Der große, eichene Tisch mit den 
bier gedrehten und unten verbundenen Säulen wurde in den 
Hintergrund der Stube vor das Sofa gerücht, in dessen Ecke ich 
laujschte. Die große, sauber gepußte Petroleumlampe wurde an 
einem langen Braht tiefer gehängt, und traubengelb leuchtete das 
boll gefũllie Glas zu mir herüber in mein Sofaceckchen. 
Da geht die Haustũür. Mit dem Strickzeugkörbchen im Arm 
erscheint die blonde Annelies, meiner Schwester beste Freundin, 
eines ehrbaren Stellmachers einzige Tochter. Freundlich grũßend 
nimmt sie ihren Platz ein. Ein begonnenes Gespräch wird durch 
die Anbunft von dem „Trienchen“, der „Lissewett“, dem „Marth⸗ 
chen“, dem „Bärrchen“ und den andern unterbrochen. Nach 
und nach sammeln sich alle. Die im rechten Winbkel aufgestellten 
beiden Bänbe sind voll besetzt. Hölzerne Stühle, mit hohen ver⸗ 
zierten Lehnen werden herbeigeholt. Nun ist der Kranz geschlossen. 
Die einen stricken, Hansburts Annelies, eine sehr geschickte 
Schneiderin, näht, die andern häbeln, flicken, jpinnen. Das Summen 
der drei zierlichen Kädchen wirbt urgemütlich. 
Zunãächst werden die wichtigsten Dorfneuigkeiten besprochen; 
dann stecken wohl zwei oder drei die Köpfe zusammen, anzudeuten, 
daß es Heimlichbeiten gibt. Zuerst Kichern, dann blingendes 
Lachen, daß selbst Mutter und Großmutter, die im Hintergrunde 
Woile spinnen, aufhorchen. Von diesen Hoeimlichbeiten habe ich nie 
etwas erfahren. 
Eine ganz besondere Freude war es mir, wenn die Eltern 
eines der Spinnstubengäste geschlachtet hatten. Ich bebam dann 
regeimãßig mein „Schlamperwürstchen“, und sehnsũchtig wartete ich 
des Augenblickes. in dem die Erwartete erschien. Mit geübtem 
Slick musterte ich unauffällig, und richtig — irgendwo im Körbchen 
der in der Schürze erspähte ich das „Pabefchen“, und mein freund- 
iches Gedenkben hat sich nicht am wenigsten nach der Größe des 
Vãũrstchens gerichtet. — Außerdem wurden noch zwei ziemlich 
zroße Bratwürste auf den Tisch des Hauses niedergelegt, auf die 
nusternd im Augenblick aller Blicke gerichtet waren. Moch an 
emselben Abend wurden sie gebraten. Das war das Amt meiner 
Mutter. Die Burschen hatten die „Witterung“ bald weg. Mit 
eisen Lockpfiffen unter dem Fenster, dann mit kleinen an die 
„cheiben geworfenen Schneebãällchen verbũndigten sie ihr Kommen. 
Zas war mir nicht recht; denn meistens mußte ich dann „ver⸗ 
hwinden“, und meine 80 jährige Großmutter ging dann auch in 
hre Kammer. Mit Gepolter, die Treppe herauf, betraten acht 
bis zehn rotwangige Burschen, das beche Hütlein auf dem Kraus- 
zaar sitzen lassend und befangen lächelnd — die Stube. Langsam, 
aber sicher tappten sie auf die Holden zu, und sehr oft geschah es, 
)aß kbein Mädel, der Derabredung gemäß, aufblickte oder ein 
Wort jprach. Das waren für die „Kecken“ sehr verlegene Augen- 
licke, bis die schwarzhaarige „Lissewett“ sich des Kicherns nicht 
nehr enthalten konnte. Dann allgemeines Lachen und der befehlende 
Vunsch: „Sätzt üch döch!“ Aber wohin? Einige blemmten sich 
wischen die Madels, die andern holten sich die bereitgestellten 
Ztühle und hockten unbeholfen auf den Holzschemeln in respekt- 
»oller Entfernung. Indessen hatte meine Mutter die Wöürste 
gebraten, der Tisch war gedeckt. Im NMu war ein Fäßchen Bier 
‚angesteckt‘“, und von der Wurst blieb meist für mich noch was 
ibrig. Oft bonnte ich vor dem Lachen und Schreien der Gesellschaft 
nicht einschlafen und war froh, wenn das Poltern auf der Treppe 
inzeigte, daß Schluß war. Langsam verhallte das helle Lachen 
n 5 epemaren Winternacht. und irgendwo pfiff der Nachtwächter 
die Swolf. 
Bei solchen Gelegenheiten bam es nicht selten vor, daß ũber⸗ 
nũtige Streiche verübt und grausige Geschichten erzählt wurden. 
50 wurde an einem stahlharten Winterabend folgende Wette 
jemacht: „Grebe Hans“ sollte von unserer Stube aus zu dem 
ftwa 800 Meter entfernten Johannjoste Schounentor laufen, mit 
Tohle drei Kreuze daran malen und sofort zurückkommen. „Häusners 
Fonn“ verpflichtete sich dagegen, während dieser Seit einen schönen, 
unden Bauernkäse aufzuessen. ohne Sutat. Wer die Wette verlor, 
nußte ein Liter Kognakb bezahlen. Damit nun bein Irrtum oder 
Zetrug vorkam, wurden am Tore zwei einwandfreie Seugen auf- 
estellt. — „Konn“ hatte, damit er recht schnell fertig wũrde, ein 
jroßes Stück Käse zwischen den Sähnen, aber je mehr er kbaute, 
esto schwieriger wurde die Geschichte. Ich sehe den „Konn“ 
och, wie er verzweifelnd seine Kinnlade mit den Händen in 
Zewegung setzt und zuletzt allos aufgibt unter dem johlenden 
ßelächter aller Burschen und Mädchen. Da wird die Haustüre 
iufgerissen, zugeschlagen. Eine leßzte ganz verzweifelte Anstrengung 
es „Konn“, und Hans steht mit hochgerötetem Gesicht mitten in 
»er Stube, atemringend. VDerloren die Wette, und „Konn“ muß 
die leßten Reste jeiner Niederlage mit seinem teuren Kognak 
inunterspũlen. 
Mit selbsterdachten Gespenstergeschichten suchten die Burschen 
»ie Holden zu ängstigen, und manch eine benutzte die Gelegenheit, 
ich dichter an die Seite ihres Auserwählten zu buscheln. Aber 
zuch die Mädels warteten oft mit grausigen Geschichten auf. 
Besonders verstand es „Schnierers Marthchen“, solche Geschichten 
u erzählen. Vielleicht hafte sie dieselben von ihrem VDater, der 
urch sein Geschäft weit in der Welt herum bam. Eine ihrer Er— 
ählungen ist mir noch treu im Gedächtnis: In einem entfernten, 
injamen Walddörfchen ist's gewesen. Da machten die Burschen 
nit den Mädchen eine Wette. Eine der Dorfschönen sollte nachts 
iuf den Friedhof gehn und ein langes Kũchenmesser auf das Grab 
ines Selbstmörders stecken. Die dreiste und sonst furchtlose Martlies 
rblãrt sich bereit. In gewisser Entfernung folgen zwei Burschen im 
euschnee. Martlies geht durch die Lũcke der Totenhofshecke neben 
er Tür an der langen Keihe der Gräber und hölzernen Kreuze 
ntlang, schnurstracks auf das bestimmte Grab los, kniet und sticht 
»as Messer in den Hũügel. Plötzlich fühlt sie, daß sie nicht wieder 
och kann. Sie hat nicht gemerbt, daß ihre „gedruckte“ Schürze 
uf das Grab festgeheftet ist. Sie glaubt, ein unsichtbarer Geist 
iehe sie nach unten für ihren Frevel. Unter einem entsetzlichen 
Aufschrei sinkt sie vorn über. Da nahmen die Burschen Reißaus. 
Unler furchtbar quälender Angst wartet man lange vergebens auf 
Nartlies. Da entschließen sich alle Burschen, nachzusehen. Die 
zpur geht wohl auf den mondbeschienenen., gespensterhaften Friedhof; 
ber eine zweite führt nicht heraus. Angstlich geht es vorwärts 
im schauerlichen Ort. Da zeichnet sich ein langes, schwarzes Etwas 
harf vom gefrorenen Schnee ab — Wartlies. Das Gesicht zur 
Erde gebehrt, die Hände in den Schnee gebrampft — ein Herz- 
chlag hat dem jungen Leben ein jähes Ende bereitet.
	        
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