Full text: Heimatschollen 1926-1928 (6. Jahrgang - 8. Jahrgang, 1926-1928)

Kirche zu Kirchditmold enthält einen besonderen Stand, der 
laut Inschrift für den damaligen Minister von Wittorf bestimmt 
war, dessen Familienwappen ihn auch heute noch ziert. Diesen 
Stand benutzte später der jeweilige Oberförster zu Kirchditmold in 
einer Eigenschaft als höchste amtliche Person des Ortes. Im 
Anfange des vorigen Jahrhunderts war der Inhaber dieses Amtes 
der durch seine derbe Offenheit wie durch seine treue Anhänglich— 
deit an das angestammte Fürstenhaus bekannte Forstmann Grau— 
Ob dieser seine Erbauungostunde nicht lieber in Gottes freier 
Natur als innerhalb der kaähien Wände eines Steinbaues suchte 
mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls bleibt die Tatsache bestehen 
daß unser Oberförster. als er gelegentlich eines in Kirchditmold 
abgehaltenen Kiechenkonvents zu dem in der Kegel nicht zu ver— 
achtenden Festschmaus eingeladen worden war, nicht nur an diesem 
teilnahm, sondern als Mann von Takt und Bildung auch den 
vorausgehenden Gottesdienst besuchte, in dem nach der Predigf 
sich die Geistlichen der Klasse unter die Gemeinde mischten, um 
durch entsprechende Fragen und deren Beantwortung durch die 
Gefragten sich ein Bild von dem Glaubensstand der Gemeinde⸗ 
glieder zu verschaffen. Grau saß in seinem abgeschlossenen Stande 
und dachte eben bei sich: es wird doch kbeiner zu dir heraufsteigen 
als sich schon die Türe öffnete und ein Schwarzrock eintrat, den 
sichtlich wenig erfreuten Oberförster fragend: „Glaubt Er denn 
mein Freund, daß alle Menschen selig werden?“ Auf diese Frage 
erfolgfe im Brummton ein verdrossenes „Ja“. — „Schön“, fuhr 
der Geistliche fort, „wir hoffen es wenigstens; wenn aber einer 
sich nicht bekehrt und Buße tut, wie solls dann mit dem werden?“ 
Argerlich über das ihm zu lange dauernde Verweilen des Pfarr— 
heern bel seiner Person, wohl auch ũüber die ihm unbequew 
erscheinende Fragestellung, antwortete der biedere Forstmann 
„Dann kann ich ihm auch nit gehelfen!“ und wandte dem Ein— 
deingling den Kücken, um ihm damit zu verdeutlichen, daß eine 
weitere Unterhaltung in dieser Form nicht erwunscht sei. Opl. 
Kampfe liegen. Das setzte Heiner so lange fort, bis den zwei 
Bäans die Bosheit (Wut) bam und sie sich wechselseitig am Hals 
ackten, daß die Federn stoben. Das war dann jseine größte Freude. 
Wieder vollführte er diesen Santansstreich, da kam der Herr 
dehrer dahergegangen und sah dem eine ganze Weile zu. Das 
Nachspiel folgte am anderen Morgen in der Schule, es mag liebevoll 
ibergangen werden. Als angenehm schien es Heiner übrigens nicht zu 
empfinden, er schrie dabei, daß man's über sieben Häuser hören bonnte. 
Das hielt ihn aber werter nicht ab, sich noch an demselben 
Dormittag mit seinem Röttchen (Freunden) herumzudallmchen 
— prũgeln). Allen Tag, den Gott werden hieß, geschah das. 
deiner schien von den Gaänserichen etwas abgekuckt (gelernt) zu 
haben, wenn er auch zehnmal unten lag, immer fing er wieder von 
euem an. Hei, wie blies er die Pausbacken aufl Ganze Betzel 
haare flogen zur Erde. Das ging so, bis der Lehrer die Schul— 
tube betrat. Und der verstand gar beinen Spaß in solchen Dingen 
uind wusch „Freund“ und „Feind“ mit derselben Lauge. Heiner Lam 
o zu semer zweiten Tracht. Damit trat für den Tag eine Ruhepause 
zwijchen den Kampfhähnen ein, von denen Heiner der Ausbund war. 
Eine ganz besondere Nichtsnutzerei wurde während der Schreib- 
tunde ausgeführt. Da war die Tochter des Försters und die des 
ARarrers. Die saßen in der Bank vor Heiner und jemen Freunden. 
Jedem der beiden Mädchen baumelte ein armläanger Sopf über 
»en Rücken. Die band Heiner zusammen oder tunkte ihr unteres 
Ende wie einen Punsel in eins der Tintengläser. Das geschah 
inter diebischer Freude von Heiners „Gesellschaft“. die diesmal 
ines Sinnes mit ihm war. 
Wenn nun die zwei Mädchen am Ende der Schulstunde aus der 
Bank treten wollten, o weh, dann merbkten sie, daß sie jemand „zu⸗ 
ammengeboppelt“ hatte. Oder ihre Eltern hielten ihnen daheim 
treng vor, ihre Jacken seien wieder arg mit Tinte beschmiert. 
Eine stramme Untersuchung jeitens des Lehrers in der Schule, 
dem die aufgebrachten Mädchen das gesteckt (mitgeteilt) hatten, 
folgke am nächsten Tag. Heiner und seine Genossen waren gleich 
m Verdacht, und wenn sie auch dem Lehrer noch so unschuldige 
Augen zuwarfen, die Geschichte blieb doch auf ihnen hängen. Wer 
wei Stunden Nachsitzen abruppen (absitzen) mußte, das war Heiner. 
Aber auch seine ganze „Bank“ war damit bedacht worden. 
Heiner rächte sich dadurch, daß er einen Bovist in den Schul⸗ 
ofen legte, der vom Gang aus geheizt wurde. Der verursachte 
einen ganz unbeschreiblichen Geruch. 
Und dem Lehrer steckte er ein paar Späneln (Stecknadeln) 
in dessen Stuhlpolster. Das was seine Rache im besonderen. 
Die gejsalzene Strafe, die es allemal jeßte, fruchtete immer — 
bis zum nächsten Mal. Schw. 
Siuüchoerti d i 
Vom Büuchertische der Heimat. 
Heiner. 
Er hieß Heiner. Das hob ihn heraus aus dem großen Haufen seiner 
Taufnamensvettern, die Heinerich oder Hinnerch genannt wurden. 
Heiner war ein bleiner Tunichtgut. Ging er auf der Dorfstraße 
jchlappchig (nachlässig) dahin, äugte er stramm in alle Höfe, und 
wenn da zwei Gääns (Gänjseriche) standen, auf einem Bein, um 
träumerisch in ihr Inneres zu schauen, ruhte er nicht eher, bis die 
sich am Kragen hatten. Er trieb sie zusammen, bog beide Arme, 
schob sie ein blein wenig nach vorn und schlug mit den Oberarmen 
gegen die Brustjeiten. daß es blatschte, wie das von den Flügeln 
der Gänseriche zu hören ist, wenn diese Vögel miteinander im 
Pestalozzis Liebesfrühling. Ein Briefwechsel. Ausge⸗ 
wählt von K. Engelhard. A. Bernecker, Heimatschollen-Verlag, 
Meljungen. Halbleinen 3,4— RM. 
Es muß als ein besonderes DVerdienst des Verlags angesprochen 
werden, daß er dieses Seugnis der gegenseitigen Entwickelung und 
Erziehung zweier Liebender, Pestalozzis und seiner Nannette, zur 
Pestalozʒifeier neu aufgelegt hat. Pestalozzis Streben, den Menschen 
zum Bärger durch die Lebensgemeinschaft der Wohnstube“ zu 
bilden, hat in dem Verkehr mit Nannette Schultheß seine Wurzeln 
und jeinen Inhalt gefunden. Weit über ein bloßes Wohlgefallen 
hinaus weitet sich die Liebe der beiden Edelmenschen zu einem 
Leben der Jugend und einer in sich jelbst Kuhe und Befriedigung 
bergenden Arbeit im geräumigen KReich einer allgemeinen Menschen- 
liebe. Ich wünsche das Bandchen in die Hand recht vieler junger 
Menschen, damit sie erbennen möchten, daß Liebe ihren eigenen 
Himmel hat und im steten Wachsen und Keifen ihre vollste Be— 
friedigung findet. Wi. 
Or. Ludwig Friedrich Werner (Boette) Aus einer 
vergessenen Ecke. I. Keihe: Hesjsische Bauern. Verlag Herm. 
Beyer 8 Söhne, Langenjsalza 1926. 
Diesjer dritte, die Veröffentlichungen „Aus einer vergessenen 
Ecke“ abschließende Band enthält siebzehn längere Aufsäßze, „die 
in ihrer Folge eine Volbskbunde pfychologijcher Art ergeben. Und 
zwar schreitet der Gang der Darstellung vom Außerlichen zum 
Innerlichen des Menschen.“ Der Verjsfasser würdigt das hessische 
Sauerntum in seinen guten und vorbildlichen Wesenszũgen, in 
jeiner bodenständigen Kraft, darauf letzten Endes Volk und Staat 
beruhen. ohne doch seine Schwächen zu ũübersehen. Er verwahrt 
sich mit Recht dagegen, daß so viel Verkehrtes und Oberflächliches 
ãber das Volk geschrieben wird. Das Schlußkapitel,Der deutsche 
BSauer in primitiver Gemeinschaftsfarbe“ nimmt burz und sachlich 
Stellung gegen volbskbundliche Veröffentlichungen von Hans Nau— 
nann, die ein falsches Bild vom deutschen Bauern zeichnen. Das 
Buch mit seinem in fleißiger Arbeit gesammelten und sorgfältig 
jesichteten Material ist eine Fundgrube für jeden, der Sinn für 
dolbskunde hat, zumal für jeden Lehrer, Pfarrer und Beamten 
iuf dem Lande. Immer wieder versetzen mich die „Eckenbücher“ 
n meine der „vergessenen Ecke“ naheliegende Dorfheimat, und 
neine Kindheit im Bauernhaus und meine Jahre als Lehrer im 
Bauerndorf bestätigen dem Verfasser, wie tief er geschürft und wie 
vahr er die Seele des Volbes erfaßt hat. R. 
Märchen. „Meinen deutschen Märchenschaßz“ nennt Eugen 
Ddiederichs die neun Bände Deutsche Märchen, die bei ihm 
xjchienen sind. Das ist ein stolzes Wort des Verlegers. Aber 
e hat ein Kecht zum Stolz. Denn wenn auch vier Bände altes 
ßut umfassjen, so hat er den anderen fünf Bänden Raum in seinem 
dause gegeben, als sie darum ankblopften, und er hat dem herr— 
ichen neuen Schatz ein schönes und würdiges Kleid gegeben. 
Das ist eine hohe Tat von ihm. Sein stolzes Wort hat also 
Sinn. Wir nehmen es ihm gerne ab. 
VDon vier der neuen Bände möchte ich reden. Denn den 
ünften, die „Donaumärchen“, benne ich nicht und muß ihn also 
iusschalten. Es bleiben zwei Bände „Märchen seit Grimm“ 
Saunert) und zwei Bände „Plattdeutsche Märchen“ (Wissel). 
Ich will eine ordentliche und solide Besprechung liefern, er 
erlangt es, der Herausgeber dieser Blätter. — Ja, wie joll man 
as aber machen, wenn man vor einem solchen herrelichen Schatz 
teht? Da kbann man doch nur jubeln, jauchzen und danken! Ver— 
nũnftigkeit vor einem Schatz ist unnatũrliche Verstellung! 
Ich lese regelmäßig das eine und andere unserer Literatur- 
lätter. Wenn ich so auf die letzten Jahrgänge zurücksehe, wundert 
nich etwas sehr. So viele gelehrte und de Leute schrieben 
arin über so viel ihrer Meinung nach Gutes. Und es kblang von 
zeit zu Seit wohl auch mal ein Ton der Begeisterung irgendwo
	        
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