eine geheimnisvolle Angelegenheitf. Oft haften Dinge am
dauerhaftesten, die das Kind nicht voll erfaßte, als sie ihm
porgetragen wurden. Ich entsinne mich deutlich, daß es
mir albern vorkam, wenn der Lehrende kindliche Ausdrucks-
weise annahm und sich abmühte, einen Lehrstoff durch
Scherze schmackhaft zu machen. —
Nichts von dem Vorgetragenen haftete. Aber gewisse
Sätze, die dem kindlichen Verstand unfaßlich schienen, wurden
Eigentum bis ins Alter, drängten sich von Seit zu Seit in
die tägliche Gedankenreihe, wenn ein leichter Anstoß die
Erinnerung weckte. Gewiß ist der nachfolgende Satz für
ein elfjähriges Kind etwas schwer: „Es ist eine mütterliche
Begünstigung, daß mich die Erde trägt, ernährt und meinen
Leib zu sich nehmen wird, aber noch eine größere Gunst
erweist sie mir, indem sie mich stillschweigend des Todes
erinnert und lehrt, daß zwar der Leib irdisch, meine Seele
aber himmlisch sei.“ Gerade diese Stelle aus meinem Lese—
stüch: „Die Erde“ überschrieben, die von Samuel von
Butschky stammte, ist mir immer wieder eingefallen, an Herbst⸗
kagen, wenn die Erde erntereif zu meinen Füßen lag. Beim
Wandern begleiteten mich diese Worte, nahmen eine sanfte
Melodie an und verstärbkten die Liebe zum heimatlichen
Soden. Ebenso hat mich nie der Geleitspruch dieses Buches
verlasjen: „Das Schöne stammt her vom Schonen; es ist
zart und will behandelt sein, wie Blumen edler Art,“ daß
„schön“ und schonen zusammenhingen, hat meinen Ordnungs—
inn gefördert, ohne ihn pedantisch zu machen, und meine Ehr—
urcht vor allem, was fein, zart und edel ist, vertieft. Das
Schöne lieben war gleich dem Frommsein, war das Gegenteil
bon Kohheit. Bücher jeglicher Art gehören zu den geheimen
Miterziehern. Eltern sollten das nie außer acht lassen,
wenn sie ihren Kindern Bücher in die Hand geben. Zu—
weilen fallen Bücher in unsere Hände, wie durch geheimnis—
volle Fügung. So erging es mir mit einem schmalen, blauen
Bändchen: „Worte des Herzens“ von Lavbater. Es lag
neben dem Handarbeitskorb auf dem Nähtisch eines alten
Fräulein, dem ich zuweilen Botschaft von meiner Mutter
ringen mußte. Ich durfte das Büchlein auch in die Hand
iehmen. Einmal las ich darin: „Nur nicht verzagen im
Unglück, wenn Gott einen Baum umhauen läßt, sorgt er
chon dafür, daß seine Dögel auf einem anderen Baum nisten
önnen.“ Mir ist es mehr als einmal ·vorgebommen, daß
Hott einen Baum umhauen ließ, auf dem mein Nest gebaut
var. Es lebte nicht nur der felsenfeste Glaube in mie, son—
dern sogar eine Art Wißbegier: wo wirst du mit Gottes
hilsje Suflucht finden? And fand sie immer ...
AUnd noch ein anderes blaues Buch spielte eine Kolle
n meinem Leben. Ein starber Band, Lieder und Balladen.
Venn der Kegen gegen die Fenster schlug oder Winter-
älte uns an das warme Simmer bannte, bam dies Buch
u seinem Kecht. Es gibt kaum eine bessere Art, Kindern
dolß und Heimat lieb zu machen, seine Geschichte bennen
zu lernen, als durch das Vorlesen von Balladen und Liedern,
die sein Schicksal zum Inhalt haben. Eine Mutter, die
orlejen kann und Fragen zu beanktworten weiß, gehört frei-
ich auch dazu. — Im Lied verherrlicht zogen sie an uns
orbei: Jung Siegfried, der stolze Knabe, Hagen der finstere
held, Karl der Große mit seinem Schildträger, die Sachsen-
aiser und ihre Gefolgschaften, die Hohenstaufen, Welf und
WMaibling. —
Mãärchenbücher — sie gehören in die Hand der Mutter.
Närchen wollen erzählt sein, nicht vorgelesen. Im Gegen—
atz dazu hat schon auf mich als bleines Mädchen das vor⸗
jelesene Bibelwort (Weihnachts-Evangelium, Psalter, die
„chöpfungsgeschichte) einen geheimnisvollen Eindruck gemacht.
f—s mag dies alles ganz individuell sein. Kegeln lassen sich
nücht aufstellen, wenn es sich um solche subtile Dinge handelt.
dur Erfahrungen kbann man mitteilen und dadurch das Nach-
enken wecken. — Friedrich der Große sagt: „Bücher sind
dichter, an denen wir uns selber immer wieder erhellen,
fahnen, unter denen wir uns mit Wahlverwandten und
Freunden sammeln.“
lJ 2
Aus alter Seit.
Geschichte
der Melsunger Bürgergarde⸗
Hon J. Müller. Melsungen.
u einem bleinen Gefecht. Nach diesem Tage nahm Preußen un—
rwartet eine andere Haltung ein. Es zog seine Truppen auf Cassel
urũck, und in jenem für die deutsche Geschichte jo denkwürdigen
dertrag von Olmũtz (20. November 1850) erblärte es sich sogar
ereit, sich an der Bundesexebution zu beteiligen. Am 202.
Dezember bejeßten die Bayern Cassel. Die Bürgergarden wurden
ufgelöͤst. Am 21. März 1851 wurde die Verfassung von 1831
ufgehoben. Eine neue Verfasjung wurde dem Lande am 13. April
852 gegeben. Sowoeit die geschichtlichen Vorgänge. Auch sie
dirkten sich in unserer Stadt aus. Schon am 8. November 1850
ũckte das 4. Preußische Kũrassierregiment in unserer Stadt ein und
tzte selnen Vormarsch am folgenden Tage nach Rotenburg fort.
hm folgte am 13. November die 13. Preußische Kavalleriebrigade,
er dann noch Truppen und Kolonnen im bunten Wechjel foigten.
)a die Preußen 5 Silbergroschen für Bequartierung des Mannes
ahlten, jo sah man diese Einquartierung nicht ungern. Jedoch
rauchte man fũr die untergestellten Pferde ziemlich erhebliche Men⸗
en an Heu. Der eigene Vorrat war bnäpp. Der Zujfail wollte
s nun, daß in der buerfürstlichen Sehntscheuer hinter dem Schloß
echt erhebliche Mengen lagerten und dazu ohne Aufsicht. Was
Vunder, wenn nun nächtlicherweise das Heu hier nach und nach
erschwand. Dieses Vorgehen hatte später jür einige Bürger ein
echt unangenehmes Nachspiel.
Die Stadt selbst glich in diesen Nobembertagen einem Militär-
ager. Taäglich wechselten die Truppen. Nach dem Tage von
Olmüũß bamen preußische Soldaten wieder auf dem Rückmarsche hier
urch. Welche Anforderungen dabei an die Stadt gestellt wurden,
nõge nur eine Angabe belegen. So wurde von der 27. Division am
Dezember die Lieferung von 2000 Pfund Brot, 2100 Pfund
zeis, 2 Casseler Viertel Hafer verlangt. Während die Truppen
n Bürgerquartieren untergebracht wurden, bezogen die Offiziere
reistens die Wirtschaften, namentlich wurde die Viehmeyersche
ODierter Teil:
Wie die Bürgergarde zu Grabe getragen wurde.
Am 20. November 1841 war Kurfürst Wilhelm II. in Frankfurt
jestorben. Es folgte sein Sohn Friedrich Wilhelm, der als Kurprinz
und Mitregent sjeit dem 80. September 1881 tatsächlich die Kegierung
des Landes schon in den Händen hatte. Diese ganze Seit seiner
Kegentschaft stand im Seichen innerpolitijscher Kämpfe, namentlich
tobte der Streit um die Verfassung. Der um die Vorrechte des
Fürsten kämpfende Minister Hans Daniel Hassenpflug hätte am
5. Juli 1837 jeine Entlassung erhalten. Kurfürst und Landtag
tanden sich im jchweren Kampf um verfassungsmäßige Kechte gegen-
aüber. Da behrte am 22. Februar 1850 Hassenflug nach Cassel
zurück. Am 283. Februar wurde das Märzministerium entlassen,
und Hassenpflug ergriff wieder die Sũgel der Regierung. Sofori
etzte offener Kampf ein. der damit endete, daß der Landtag am
6. Juni aufgelöst wurde. Der am 22. August neu ins Leben
retende Landtag verfiel schon am 2. Soptember der Auflösung.
Daraufhin kam es im Lande hier und da zu ernsten Ruhestörungen.
Um dem zu begegnen, verhängte der Minister den Kriegszustand
über das Land. Der Kurfürst jelbst verließ das Land und begab
sich auf Keisen. Da beschloß GEsterreich im Bunde mit Bayhern
und Württemberg am 11. Obtober 1850 die Bundesexyebution gegen
hHessen. Am 1. November rüũckten die ersten Truppen im Sũüden
Hessens ein. Dem sah nun Preußen nicht müßig zu. Es ließ
am solgenden Tage ebenfalls jeine Truppen in Hessen einmarschieren.
Schon am 8. November bam es zwischen beiden Teilen bei Bronzell