Full text: Heimatschollen 1926-1928 (6. Jahrgang - 8. Jahrgang, 1926-1928)

eine geheimnisvolle Angelegenheitf. Oft haften Dinge am 
dauerhaftesten, die das Kind nicht voll erfaßte, als sie ihm 
porgetragen wurden. Ich entsinne mich deutlich, daß es 
mir albern vorkam, wenn der Lehrende kindliche Ausdrucks- 
weise annahm und sich abmühte, einen Lehrstoff durch 
Scherze schmackhaft zu machen. — 
Nichts von dem Vorgetragenen haftete. Aber gewisse 
Sätze, die dem kindlichen Verstand unfaßlich schienen, wurden 
Eigentum bis ins Alter, drängten sich von Seit zu Seit in 
die tägliche Gedankenreihe, wenn ein leichter Anstoß die 
Erinnerung weckte. Gewiß ist der nachfolgende Satz für 
ein elfjähriges Kind etwas schwer: „Es ist eine mütterliche 
Begünstigung, daß mich die Erde trägt, ernährt und meinen 
Leib zu sich nehmen wird, aber noch eine größere Gunst 
erweist sie mir, indem sie mich stillschweigend des Todes 
erinnert und lehrt, daß zwar der Leib irdisch, meine Seele 
aber himmlisch sei.“ Gerade diese Stelle aus meinem Lese— 
stüch: „Die Erde“ überschrieben, die von Samuel von 
Butschky stammte, ist mir immer wieder eingefallen, an Herbst⸗ 
kagen, wenn die Erde erntereif zu meinen Füßen lag. Beim 
Wandern begleiteten mich diese Worte, nahmen eine sanfte 
Melodie an und verstärbkten die Liebe zum heimatlichen 
Soden. Ebenso hat mich nie der Geleitspruch dieses Buches 
verlasjen: „Das Schöne stammt her vom Schonen; es ist 
zart und will behandelt sein, wie Blumen edler Art,“ daß 
„schön“ und schonen zusammenhingen, hat meinen Ordnungs— 
inn gefördert, ohne ihn pedantisch zu machen, und meine Ehr— 
urcht vor allem, was fein, zart und edel ist, vertieft. Das 
Schöne lieben war gleich dem Frommsein, war das Gegenteil 
bon Kohheit. Bücher jeglicher Art gehören zu den geheimen 
Miterziehern. Eltern sollten das nie außer acht lassen, 
wenn sie ihren Kindern Bücher in die Hand geben. Zu— 
weilen fallen Bücher in unsere Hände, wie durch geheimnis— 
volle Fügung. So erging es mir mit einem schmalen, blauen 
Bändchen: „Worte des Herzens“ von Lavbater. Es lag 
neben dem Handarbeitskorb auf dem Nähtisch eines alten 
Fräulein, dem ich zuweilen Botschaft von meiner Mutter 
ringen mußte. Ich durfte das Büchlein auch in die Hand 
iehmen. Einmal las ich darin: „Nur nicht verzagen im 
Unglück, wenn Gott einen Baum umhauen läßt, sorgt er 
chon dafür, daß seine Dögel auf einem anderen Baum nisten 
önnen.“ Mir ist es mehr als einmal ·vorgebommen, daß 
Hott einen Baum umhauen ließ, auf dem mein Nest gebaut 
var. Es lebte nicht nur der felsenfeste Glaube in mie, son— 
dern sogar eine Art Wißbegier: wo wirst du mit Gottes 
hilsje Suflucht finden? And fand sie immer ... 
AUnd noch ein anderes blaues Buch spielte eine Kolle 
n meinem Leben. Ein starber Band, Lieder und Balladen. 
Venn der Kegen gegen die Fenster schlug oder Winter- 
älte uns an das warme Simmer bannte, bam dies Buch 
u seinem Kecht. Es gibt kaum eine bessere Art, Kindern 
dolß und Heimat lieb zu machen, seine Geschichte bennen 
zu lernen, als durch das Vorlesen von Balladen und Liedern, 
die sein Schicksal zum Inhalt haben. Eine Mutter, die 
orlejen kann und Fragen zu beanktworten weiß, gehört frei- 
ich auch dazu. — Im Lied verherrlicht zogen sie an uns 
orbei: Jung Siegfried, der stolze Knabe, Hagen der finstere 
held, Karl der Große mit seinem Schildträger, die Sachsen- 
aiser und ihre Gefolgschaften, die Hohenstaufen, Welf und 
WMaibling. — 
Mãärchenbücher — sie gehören in die Hand der Mutter. 
Närchen wollen erzählt sein, nicht vorgelesen. Im Gegen— 
atz dazu hat schon auf mich als bleines Mädchen das vor⸗ 
jelesene Bibelwort (Weihnachts-Evangelium, Psalter, die 
„chöpfungsgeschichte) einen geheimnisvollen Eindruck gemacht. 
f—s mag dies alles ganz individuell sein. Kegeln lassen sich 
nücht aufstellen, wenn es sich um solche subtile Dinge handelt. 
dur Erfahrungen kbann man mitteilen und dadurch das Nach- 
enken wecken. — Friedrich der Große sagt: „Bücher sind 
dichter, an denen wir uns selber immer wieder erhellen, 
fahnen, unter denen wir uns mit Wahlverwandten und 
Freunden sammeln.“ 
lJ 2 
Aus alter Seit. 
Geschichte 
der Melsunger Bürgergarde⸗ 
Hon J. Müller. Melsungen. 
u einem bleinen Gefecht. Nach diesem Tage nahm Preußen un— 
rwartet eine andere Haltung ein. Es zog seine Truppen auf Cassel 
urũck, und in jenem für die deutsche Geschichte jo denkwürdigen 
dertrag von Olmũtz (20. November 1850) erblärte es sich sogar 
ereit, sich an der Bundesexebution zu beteiligen. Am 202. 
Dezember bejeßten die Bayern Cassel. Die Bürgergarden wurden 
ufgelöͤst. Am 21. März 1851 wurde die Verfassung von 1831 
ufgehoben. Eine neue Verfasjung wurde dem Lande am 13. April 
852 gegeben. Sowoeit die geschichtlichen Vorgänge. Auch sie 
dirkten sich in unserer Stadt aus. Schon am 8. November 1850 
ũckte das 4. Preußische Kũrassierregiment in unserer Stadt ein und 
tzte selnen Vormarsch am folgenden Tage nach Rotenburg fort. 
hm folgte am 13. November die 13. Preußische Kavalleriebrigade, 
er dann noch Truppen und Kolonnen im bunten Wechjel foigten. 
)a die Preußen 5 Silbergroschen für Bequartierung des Mannes 
ahlten, jo sah man diese Einquartierung nicht ungern. Jedoch 
rauchte man fũr die untergestellten Pferde ziemlich erhebliche Men⸗ 
en an Heu. Der eigene Vorrat war bnäpp. Der Zujfail wollte 
s nun, daß in der buerfürstlichen Sehntscheuer hinter dem Schloß 
echt erhebliche Mengen lagerten und dazu ohne Aufsicht. Was 
Vunder, wenn nun nächtlicherweise das Heu hier nach und nach 
erschwand. Dieses Vorgehen hatte später jür einige Bürger ein 
echt unangenehmes Nachspiel. 
Die Stadt selbst glich in diesen Nobembertagen einem Militär- 
ager. Taäglich wechselten die Truppen. Nach dem Tage von 
Olmüũß bamen preußische Soldaten wieder auf dem Rückmarsche hier 
urch. Welche Anforderungen dabei an die Stadt gestellt wurden, 
nõge nur eine Angabe belegen. So wurde von der 27. Division am 
Dezember die Lieferung von 2000 Pfund Brot, 2100 Pfund 
zeis, 2 Casseler Viertel Hafer verlangt. Während die Truppen 
n Bürgerquartieren untergebracht wurden, bezogen die Offiziere 
reistens die Wirtschaften, namentlich wurde die Viehmeyersche 
ODierter Teil: 
Wie die Bürgergarde zu Grabe getragen wurde. 
Am 20. November 1841 war Kurfürst Wilhelm II. in Frankfurt 
jestorben. Es folgte sein Sohn Friedrich Wilhelm, der als Kurprinz 
und Mitregent sjeit dem 80. September 1881 tatsächlich die Kegierung 
des Landes schon in den Händen hatte. Diese ganze Seit seiner 
Kegentschaft stand im Seichen innerpolitijscher Kämpfe, namentlich 
tobte der Streit um die Verfassung. Der um die Vorrechte des 
Fürsten kämpfende Minister Hans Daniel Hassenpflug hätte am 
5. Juli 1837 jeine Entlassung erhalten. Kurfürst und Landtag 
tanden sich im jchweren Kampf um verfassungsmäßige Kechte gegen- 
aüber. Da behrte am 22. Februar 1850 Hassenflug nach Cassel 
zurück. Am 283. Februar wurde das Märzministerium entlassen, 
und Hassenpflug ergriff wieder die Sũgel der Regierung. Sofori 
etzte offener Kampf ein. der damit endete, daß der Landtag am 
6. Juni aufgelöst wurde. Der am 22. August neu ins Leben 
retende Landtag verfiel schon am 2. Soptember der Auflösung. 
Daraufhin kam es im Lande hier und da zu ernsten Ruhestörungen. 
Um dem zu begegnen, verhängte der Minister den Kriegszustand 
über das Land. Der Kurfürst jelbst verließ das Land und begab 
sich auf Keisen. Da beschloß GEsterreich im Bunde mit Bayhern 
und Württemberg am 11. Obtober 1850 die Bundesexyebution gegen 
hHessen. Am 1. November rüũckten die ersten Truppen im Sũüden 
Hessens ein. Dem sah nun Preußen nicht müßig zu. Es ließ 
am solgenden Tage ebenfalls jeine Truppen in Hessen einmarschieren. 
Schon am 8. November bam es zwischen beiden Teilen bei Bronzell
	        
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