Full text: Heimatschollen 1926-1928 (6. Jahrgang - 8. Jahrgang, 1926-1928)

Dann flüchtete er sich dahin, wo ihn beiner mehr an— 
speien würde. 
Er war ein stiller Mann gewesen, und beiner war mit 
leeren Händen aus seiner Stube gegangen. Kampf war 
nicht seine Axrt, und er ging ihm immer aus dem Wege 
und wies auch so seine Kleinen. Dem Kampf mit der Ver— 
leumdung aus dem Wege zu gehen, schien ihm wohl ein 
unmöglich Ding, und zum Sieg war's gewiß weit. und die 
Kräfte eines Riesen waren vonnöten. Da war's ihm wohl 
leichter gelungen, in verzweifeltem Ringen seinen frommen 
Glauben zu besiegen, und dann war der Weg für ihn leicht. 
Dem Toten ging der junge Pfarrer bei der Leiche 
voran wie jedem andern auch. Wenn z3wei dasselbe tun, 
ist's noch lange nicht dasselbe, sagte er in jeiner ergreifenden 
Kede, die jene leider nur vom Hörensagen erfuhren, die dabei 
hätten zunächst stehen müssen. Die dem Sarge gefolgt waren 
— mehr als ein Dutzend ist's KRaum gewesen — waren auf— 
rechte Männer und schämten sich für jene, die fehlten. 
AUnd sei einem Gliede der Gemeinde, einem Ehrenmanne 
von edelster Art, von dunklen Kräften die Ehre und damit 
der letzte Halt genommen, so fühle er, der Kedner, als 
Hirte einer verstörten Herde, als berufener Schützer der 
Sedrängten, als berufenster Derteidiger eines Geschmähten, 
es als seine unerläßliche Pflicht, hinwegzusehen über eine Tat 
der Derzweiflung. Und er gab dem toten Mitbruder in 
Christo mit ganz besonders feierlichen Worten den kirchlichen 
Segen. 
Er ist nachmals Seelsorger geworden an einem Suchthaus, 
und jein Wirben ist manchem Gerichteten ein Stab geworden 
und ein Weijer in ein neues Leben. 
Ein paar Monate später begrub man dem Buben die 
Mutter. An gebrochenem Herzen war sie gestorben. 
Den Kindern rettete der alte Kechtsbonsulent, so sehr 
er sich mühte, beinen Pfennig aus dem Vermögen. 
Den Jungen nahm er nach der Einsegnung, die burz 
darauf erfolgte und bei der ein paar aufrechte Männer, 
porweg wieder der Pfarrer, ihm die Eltern ersetzten, zu sich 
auf die Schreibstube, und der stille Knabe ließ es wider— 
standslos geschehen. Es bam ihm vor, als lande er in einem 
wohlgeschützten Hafen. Aber wie von einem Entsetzen ge⸗ 
schüttelt hatte er sich aufgebäumt, als der Buchbinder ihn 
zum Leéhrling verlangte. Und dem rechtskundigen Freunde 
hatte er wild entgegengeschrien, dann würde, dann müsse er 
dem Dater nachgehen. 
Schwester Grete fand bei Derwandten ein bitteres Brot, 
der Bruder bam zu andern, die ihm auch gerade nichts 
jchenkten, dafür aber auch nicht durch alle Gassen posaunten 
wie jene, wie gut es das Würmlein bei ihnen habe. Er 
am dann ein Jahr später als Lehrling in die bleine 
Druckerei, und es soll nur gesagt jein, deren Besitzer stand 
unter den Swölfen am Grabe. 
Swei Jahre später ktauschte der alte KRechtskonsulent 
nach langem Leiden, das dem Jungen reichlich Gelegenheit 
gab, gerne gezeigte Danbbarbeit zu erweijen, die Gerechtig- 
beit dieser schwachen Welt gegen jene des Himmels. Als 
wackerer Haushalter hatte er aber zur rechten Seit seinem 
leinen Gehilfen die Wege geebnet, und der zog ein in einer 
Schreibstube der großen Stadt. Er ist ihr treu geblieben 
bis zu seinem Tode. 
In die Heimat ist er noch zweimal gekommen. 
Swoeimal hat er die Erde sich wölben sehen über denen, 
die ihm allein geblieben waren von seinen Lieben. Es ist 
ihm aber gewesen, als sei den Geschwistern das bessere Teil 
perblieben. Sie bekbamen ihr Kreuzlein, und er hat manch— 
mal gehungert in diesen Seiten. und daß auf ihren Gräbern 
edes Jahr die Gelbvpeigelein, die Keseden und Moos- 
öslein blühten, das wird niemand wundern. Nur waren 
ie nicht wie damals aus dem bleinen Beet im eignen 
Harten. 
In die Heimat ist der Schreiber dann nie mehr ge— 
ommen. Nicht, weil er etwa grollte. Aber sie war tot für 
hn. Es wired sich zeigen, ob er nicht darin ein wenig irete. 
Dierthalb Jahrzehnte lief dann das Leben für ihn so 
uhig und gleichmäßig dahin wie ein Bach durch tellerglatte 
Auen. Es darf freilich nicht verschwiegen sein, daß der ab— 
egriffene Vergleich auch obendrein noch ein wenig hinbt. 
Nit herzigen Dergißmeinnichtsternchen war's an diesem Bach 
lar übel bestellt und mit goldnen Hahnenfüßlein und den 
reuherzigen Gänseblümchen nicht minder. Schreiben, Essen- 
värmen, Schreiben, Essenkochen für den andern Tag und 
in wenig Mädchen für alles spielen zum Schluß: ein Tag 
ihnelte verzweifelt dem andern. Sonntags der Kirchgang, 
umeist gefolgt von emsiger Arbeit vor einem stattlichen 
5foß mitgebrachter Papiere. 
Mur ein einziges Mal ist er bis in sein Innerstes auf— 
jewühlt worden in der langen Seit. Das war, wie zum 
ünfzigsten Mal der Tag seiner Geburt sich näherte. 
Ein Brief kam an ihn auf einigen Umwegen, und er 
oetrachtete ihn erst ein wenig zweifelnd. Kopfschüttelnd las 
ꝛr den Namen des Absenders: Pfarrer K..am 
⸗uchthaus in ̃.... 
Dann lief auf einmal ein Sittern über ihn hin, und 
alte Bilder wurden schmerzhaft deutlich wach. 
Und dann las er schwer atmend. 
Nach ein paar herzlichen Worten der Erinnerung an 
den Schüler, der ihm als liebster Konfirmand und schwer— 
eprüftestes Kind seiner ehemaligen Gemeinde noch ganz 
esonders nahe stehe, bat der Briefschreiber, ihm kurz von 
inem Erlebnis berichten zu dürfen, das für ihn vielleicht 
ine große Genugtuung bedeute. 
Einem Suchthäusler habe er gestern die Augen zuge— 
rückt, einem Menschen, verkommen wie kaum einer. And 
och nicht ganz des göttlichen Funkens bar. Versöhnt mit 
einem Gotte sei der dahingegangen, der ihm, dem Empfänger 
ieses Briefes, die Jugend zerstört, die Eltern genommen 
ind sein bißchen Hab und Gut, und unter kiefster Reue 
lehe er um seine Vergebung. Dieles habe er auf dem Ge— 
zissen, aber als das unerbittlichste Gespenst brenne doch die 
krinnerung an jenen Schurbenstreich, begangen an dem 
armlosesten, gutherzigsten Menschen, auf seiner fluchbeladenen 
zeele. Aber so wahr ein Gott im Himmel sei, so schlecht 
ei er damals noch nicht gewesen, daß er mit dem Vorsatz, 
»m alles zu nehmen, zu dem gegangen sei, der seinen 
dater herzlich aufgenommen habe wie einen lieben Bruder. 
fin wenig abgebrannt sei er gewesen und habe nicht mehr 
Is die Hoffnung gehegt, man werde ihm vielleicht einen 
erloren gegebenen Hunderter in die Hand drücken, ihn 
ber gewiß von der lieben Freistätte des Daters verweisen. 
Schuld an seiner großen Schurberei seien aber letzten 
ẽndes die verzweifelten Augen der Ehegatten gewesen. Er 
abe aus denen wie aus einem Buch herauslesen müssen, 
vas sie von ihm befürchteten, wie die einfachen Leutchen 
ius seinem Schwadronieren erst erbannt hätten, wes Geistes 
Zind er sei, und vermutlich habe der Dater sie über seinen 
ngeratenen Einzigen auch nicht ganz im Anbklaren gelassen. 
Ddie Augen hätten ihm gesagt: Wir dürfen den Namen des 
ieben Toten nicht beschmutzen, indem wir seinen mißratenen 
*prößling an den Pranger stellen. Und die Angst sei da— 
eben deutlich zu erbennen gewesen, gewißlich sei der eigene 
uute Kuf noch mehr in Gefahr, wenn der Besucher am
	        
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