Full text: Heimatschollen 1926-1928 (6. Jahrgang - 8. Jahrgang, 1926-1928)

in der Schale einen reisfen Menschen zu Tränen rührten, 
wie mußte es da erst hart hergehen, wenn der auf dem 
Gottesacker stand vor den verfallenen Gräbern seiner Lieben? 
Und wenn er die nun vielleicht gar nicht mehr fand, andere 
ineingebettet in das letzte Lager der Eltern, an die Mauer 
gelehnt die ver rosteten Kreuze und kaum zu entziffern die 
Aäglichen Keste goldener Seichen? 
Der Bube war am gleichen Abend noch hinausgestürzt 
auf den Anger des Friedens, hatte aufatmend die Gräber 
und ihre Sier noch bestehend gefunden, hatte das schlimmste 
an Ankbraut und dürren Sweigen in aller Eile entfernt 
und aus seinem kleinen Gartenland das ganze halbe Dutzend 
einer Gelbveigelein und alle Keseden und was nur noch 
zu versetzen sich lohnte, auf die kbahlen Stellen herüber- 
oerpflanzt. 
Und war durchgebrannt, als sei er auf einer bösen Tat 
ertappt, wie der alte Totengräber hinter den Büschen er⸗ 
schien. Es hatte ja auch schon zu Abend geläutet! Und 
wer dann noch auf dem Friedhof sich herumtrieb, der mußte 
sich aufschreiben lassen für einen Taler Strafe! And aufge- 
atmet hatte er daheim ein wenig, daß beine andere Strafe, 
keine tüchtige Tracht Prügel, ja noch nicht einmal eine 
Schelte über ihn kam. And doch war schon das Nachtmahl 
eine gute halbe Stunde vorüber. Und gewiß hatte der 
chwarzbärtige Mann mit den guten Augen sich eigner Der— 
gehen in der Jugend erinnert und darum angehalten für 
den argen Sünder. Den mußte man doch wirblich verehren, 
den lieben, gerade wie von Gott gesandten Gast! 
Und wie mußte man den bewundern, als man ein 
Weniges von seinem merbwürdigen Lebenslauf erfahren 
hatte, ein wenig mehr als die paar Worte, die der 
Hater über ihn wußtel Ein armer Hüterbub war der Gast 
als Junge gewesen. Ein paar Bücher hatten sich auf Gott 
weiß welche Weise zu ihm hinausgefunden in die Langeweile 
eines stillen Handwerks. Eine Gier hatten sie in ihm 
vachgemacht, mehr zu schauen von dem, was da geschildert 
war, und — dem Städktchen zu nicht geringer Aufregung — 
rines Tages war er verschwunden. 
Doch haͤtte er nicht loskommen bönnen von den Büchern, 
denn er sollte jetzt in sehr angesehener Stellung sein in 
einem Welthaus in Leipzig, der Bücherstadt. Die Höhe 
—E 
Büchern, die ein paar Tage später für ihn angekommen 
waren aus dem Geschäft des Besuchers. Noch dicker waren 
— 
darin, was es nur irgend gab auf der weiten Welt, und 
aach dem Alphabet war alles das fein geordnet. Es war 
'ast wie ein Märchen. Nichts gab es, wirblich nichts in 
den Schulbüchern, in der Seitung, unter den fremden Worten 
des Niltags, das da nicht burz und treffend erklärt war. 
Es sollte gar noch so etwas, aber viel Größeres gedruckt 
verden zu Leipzig in dem Bücherhaus. Sollte zwölf noch 
hiel dickere Bände haben, und alles wäre darin ausführlich 
behandelt, für die Großen, für die Studenten. die Gelebeten, 
die Künstler und solche Leute. 
Swölf solcher Bände aufeinanderl Das war höher als 
er selbst, wenn er sich auch noch so sehr auf die Fußspitzen 
eecktel Und vieltausendmal zwölf Bände! Welch ein Riesen- 
geschäft! Welch eine hohe Stellung also der Gast einnahm! 
Und war ein einfacher Hüterbube gewesen! Im ganzen 
Lesebuch fand sich ein ähnliches Leben nicht beschrieben 
und war doch von manchem die Kede, der von bleinem An— 
tang auf stattliche Höhe emporgekommen war. 
Und nun kam etwas, das erschien ihm fast unfaßlich: 
⸗»x. der dumme Bube. war ausersehen. den seltenen Mann 
uuf seinen käglichen Spaziergängen zu begleiten. Warum 
»igentlich? Der wußte doch ganz genau, wo es zur „Silber- 
anne“ hinführte und zur „Schönen Aussicht“, wo der 
Grünwieser Weiher“ versteckt lag und wo man Drusen 
ius Quarzbristallen fand, und selbst in die „Heidenhohl“ 
»in fand er ohne weiteres den Weg. Mber der VDater 
atte das Anfaßbare tatsächlich angeordnet, der Besucher 
atte ihm lächelnd die heißen Wangen gekätjchelt und damit 
vohl gezeigt, daß ihm die Begleitung gewißlich nicht lästig 
var. And Ferien waren! Heu wartete auf den Wiesen auf 
alle daheim abbömmlichen Hände! Und nun spazieren laufen? 
Erst in reifen Jahren ist dem Schreiber die Erleuchtung 
für den ganzen unfaßbaren Vorgang gekommen, und damals 
at er sich damit beschieden, er sei wohl gewählt, weil ein 
Hroßes zur Begleitung nicht gut zu entbehren, andererseits 
her Gast auf seinen Gängen doch nicht ohne Ansprache 
ein sollte. 
Da gab er sich redlich alle erdenbliche Mühe. Für 
illes, was draußen lebt, hatte er schon immer eine große 
deigung gehabt und aus seinen Büchern und den seltenen 
paʒiergängen sich darum eine ganz leidliche Kenntnis all 
»er Dinge in seiner Umwelt zusammengetragen. Kaupen 
ind Käfer, Schmetterlinge und Vögel wußte er fast immer 
»ei Namen zu nennen, ein wenig von ihrer Eigenart zu 
rzrzählen, und auch nur wenige Steine waren ihm fremd. 
Die Bäume benannteé er lediglich nach ihrer Form zumeist 
chon von weitem, und von den Sternen und dem Mond 
ind was sonst damit zusammenhängt, wußte er bei einer 
päten Heimbehr auch das eine und das andere zu 
erichten. 
Woenn's zu berechnen galt, wiebiel Taler jener Korn— 
icker wohl einbrächte und von diesem die Kartoffeln, dann 
jeß er sich nicht hinten finden, und er hat nicht gemerkt, 
»aß einer ihn so ganz nebenbei hinsichtlich seines Kenntnis- 
tandes auf Herz und Nieren prüfte. Hat nicht geahnt, 
daß eine Prüfung seines Herzens, seines Gemütes als 
iberflüssig gar nicht mehr versucht ward. Die Blumen- 
töcklein auf den alten Gräbern und Krummreich, der betagte 
Totengräber, hatten ihre Geheimnisse obhne ieden Hinterhalt 
erraten. 
Darum war der Bube wie aus den Wolben gejallen, 
vie sein Begleiter ihm einmal, nachdem er nach seinen 
ugendlichen Subunftswünschen mit ein paar geschickten Fragen 
ondiert hatte, überaus liebreich den Vorschlag machte, er 
nöge, wenn die Schule herum sei, zu ihm nach der fernen 
5tadt Leipzig kLommen, und er würde ihm helfen, es zu 
twas Kechtem zu bringen im Leben. And er habe beine 
Zinder, und es mache ihm wirblich Freude, wenn er ein 
venig dankbar sein könne für die getreue Begleitung. 
Dem Knaben ktanzte es vor den Augen. Er konnte 
zaum etwas stammeln und vergaß selbst das, sich mit einem 
händedruck zu bedanben. Er war aber doch wohl verstanden 
vorden mit seiner wortlosen Antwort. Die Wangen wurden 
hm wieder getätschelt, und dann durfte er ungestört von der 
Zukunft genießen. Es bam diesmal für eine ganze Weile 
nicht eine einzige Frage. aber von lächelnden Augen wurde 
er heimlich betrachtet. Er bemerkte das nicht. Gar zu 
ehr sang und kblang alles in ihm. 
Wie dann die Freude ein wenig abgeebbt war, bam 
ein Kätseln in ihm auf, ein Rätseln über das trübe 
rächeln, das dem alten Freunde in den Nugen gelegen 
hatte, da er von seiner Kinderlosigkeit sprach. War der 
za nicht vielleicht einen Augenblick nicht ganz Herr über 
eine Gedanben gewesen? Er besaß doch einen erwachsenen 
Sohn. Ach, gewiß hatte er nur gemeint. er sei jetzt, wo 
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