Full text: Heimatschollen 1921-1925 (1. Jahrgang - 5. Jahrgang, 1921-1925)

Säumen, erschaffen. Indem der Kranke durch den heiligen Saum 
broch, behrte er gleichsam in den uranfänglichen Mutterschoß zurück, 
um neugeboren und heil daraus hervorzukommen. (Kolbe, hessijche 
Volkssitten und Gebräuche.) Auch die Bestattung der Toten in 
ausgehöhlten Baumstämmen beruht auf dieser Vorstellung. Ein in 
der Werragegend üblich gewesenér, in chreistlicher Zeit gewiß erst 
erweiterter Spruch bei einer Bruchheilung lautete: „Korrante, 
borrante, verschwindel Im Namen des Daters, des Sohnes und 
des heiligen Geistesl“ Jabob Grimm sagt in seiner Deutschen 
Mythologie: „Man heilte aber auch, indein man Kinder oder Bieb 
durch ausgehöhlte Erde, hohle Steine 
oder durch einen gespaltenen Baum 
gehen und briechen ließ. Das hielt 
allen Sauber ab oder vernichtete 
ihn oder wirkte sympathisch.“ Aus 
dem Magdeburgischen teilte er uns 
folgendes mit: „Wenn zwei Brüder 
einen Kirschbaum in der Mitte 
spalten, das kranke Kind hindurch— 
ziehen und darauf den Baum wieder 
zubinden, so genest das Kind, falls 
der Baum zusammenheilt.“ Er er— 
zählt weiter von einer dicken Eiche 
bei Wittstock, deren Aste ineinander 
gewachsen waren und somit Löcher 
bildeten: „Wer durch diese Löcher 
broch, genas von seiner Kranbheit, 
um den Baum herum lagen Krücken 
in Deed die nesepen p 
geworfen hatten.“ einri öser 
führt noch eine ganze Reihé solcher Friedewalder Nadelshe. 
Heilverfahren in berschiedenen Teilen Deutschlands an. Bald 
ist es eine Eiche, bald ein Steinobstbaum, der unten aufgespalten 
und mit Keilen auseinandergehalten wird, um branke“ Kinder 
hĩndurchzuziehen. Heilt der Baum nach angelegtem Verband 
wieder zu, wird auch das Kind gesund. Man glaubt, daß der Geist 
eines auf diese Weise geheilten Menschen beim Tode in den Baum 
ũbergehe, und daß dieser, als Krummholz zum Schiffsbau benutzt, 
die Seele des Kindes als Klabautermann mitf auf das Schiff bringe. 
um diesjes vor Fährnis zu bewahren. 
Aus dem Bauminnern sollté der Mensch, der mit dem inneren 
Holze in Berührung kbam, Urkraft, alles Heil schöpfen. Schon 
Tacitus berichtet in der Germania von der Ansicht der alten 
Deutschen, daß Volb und Familie ihren Ursprung von Bäumen 
haben, wie auch heute noch in bvielen Gegenden Deutschlands die 
Kinder dem Kinderglauben nach aus hohlen Bäumen, Buchen, 
Eichen oder Linden, Lommen. Sei den Heilbrauch des Durch⸗ 
ziehens durch den hohlen Baum handelt es sich also um eine 
Wiedergeburt. Das Arsprüngliche ist demnach die Ansicht, daß 
nicht der böse Geist in den Baum zieht, sondern der Baum von 
seiner Kraft dem mit seinem Innern in Berührung bommenden 
Kranben abgibt. Die Seit, in der die Anfänge des Baumkbultus 
liegen, wußte noch nichts von Dämonen, die in Bäumen wohnen 
und in sie hineingetragen werden Lönnen. Erst mit dem Übergang 
des Natürlichkeitsglaußens zum Wunderglauben wurde auch aus 
dem VDerband, den man dem angeschnittenen Baum umlegte, um 
ihn vor dem Ausbluten zu bewahren, ein magisches Mittel, das 
den bösen Geist in dem Baum festhält. 
Mit der Ausbildung des Götterglaubens sah man das Baum— 
innere an als Aufenthalt eines Gottes; im Baum verehrte man 
den Gott, fiel betend vor ihm nieder, berührte seinen Stamm, um 
Schutz und Stärbe zu empfangen, und brachte ihm zum Danke 
Opfer mannigfaltigster Ari. Hierher gehört auch die Anbekung 
der heiligen Eichen, so der Donareiche bei Geismar in der Nähe 
Fritzlars, die der Apostel der Deutjchen, Winfried Bonifacius, fällte 
In Hessen gab es auch genug jolcher hohlen Bäume, die für 
Heilungen in Anspruch genomnmen wurden. Die Stätte, wo auf 
der Höhe eines Waldweges zwischen Speckswinkel und Josbach 
eine hohle Eiche stand, heißt noch heute das Nadelöhr. Auch ein 
Waldort bei dem benachbarken Mengsberg in Oberhoessen heißt das 
Mengsberger Nadelöhr. Ein drittes Nadelöhr befand sich zu 
Marburg an der Lahn bei dem von der heiligen Elisabeih dem 
heiligen Franzisbus zu Ehren erbauten Hospital. 
Alle diese Nadelöhre befanden sich wohl in Bäumen; hohle 
Steine für gleiche Swecke sind hier unbebannt. Heinrich Röser 
führt dagegen aus Ploß-Kenz: „Das Kind in Brauch und Sitte 
der Völber“ ein Beispiel aus Franbreich an, wo Kinder die sogen. 
Steintaufe erhalten, d. h. man jchiebt sie durch den hohlen Stein, 
damit sie gesund werden. Einem früheren hessijchen Fürsten, dem 
Landgrafen Woritz von Hessen, mit dem Beinamen des Gelehrten, 
ist es zu danken, daß uns ein Nadelohr, wenn auch nicht in der 
iejprünglichen Art im vergänglichen Holze, sondern in Stein 
earbeitet, ũüberkommen ist. Es steht an der Straße von Berka 
lach Friedewald, die in leßterem Grt eine Hauptstraße von Hersfeld 
ach Thüringen erreicht. In Friedewald befindet sich ein großes 
„chloß der Landgrafen von Hessen, zum Schutz dieser alten Hoer⸗ 
traße errichtet und von Landgraf Moritz bedeutend erweitert und 
erschönert. Nach Paul Hentzners Itinerarium vom Jahre 1617 
jst das mitten im Seulingswald liegende Nadelöhr an Steile eines 
·lten hohlen Baumes errichtet worden, angeblich um den Jãgern 
um besseren Abschuß des Wildes einen Ankerschlupf zu gewähren. 
Bleichzeitig aber berichtet Henhner, 
daß alle Vorübergehenden zu Scherz 
und Qual hindurchzubriechen pflegten. 
Solcher Scherz wird noch heute ge— 
äbt. Die Qual aber besteht darin, 
daß dem, der etwas langsam und 
ungeschickt durch die enge Gffnung 
Lriecht, von liebevollen Händen auf 
der Derlängerung des Räückgrats 
rine beschleunigtere Gangart ein— 
zebläut wird. 
Das Friedewalder Nadelöhr ist 
ein aus drei schweren Sandsteinen 
gebildetes Tor, umgeben von einem 
Sandsteingeplätte; nur unter dem 
Tore sind die Platten weggelassen, 
jo daß man sich beim Durchbriechen 
nicht die Knie beschädigt. An der 
serden —— * — 
örmigen Deckplatte befinden si 
Hosphoteghaph Ederihe Vagel. unter einem achtspitzigen Stern die 
z5nitialen M LZH (Moritz Landgraf zu Hessen), an der Kück. 
eite atcht MNADEIOR 1561, darunter in den Bogenzirbeln HD 3 
Jund 14M. 
Es ist schon oben gesagt, daß bei heiligen Bäumen geopfert 
vurde. Diesem Brauche trägt auch ein, freilich bedeutend später 
zrst errichteter Opferstock, unten mit abgeschrägten Ecken, mit einer 
znjchrift auf dem Hals und abgestumpft pyramidalem Kopfdeckel, 
vorin sich ein Einwurf für Geld befindet, Kechnung. Der darunter 
efindlich gewesene Geldbasten ist gewaltsam entfernt worden. Bei 
»en am Nadelöhr noch heute üblichen Vollbsbelustigungen wurden 
rüher milde Gaben in diesen Opferstock getan. Wem diese Gaben 
zu Gute bamen, das zeigt die Inschrift: 
IN OPFER VORDIE WAISENKINDER ZUHERSEFEID 1747. 
Der Mardorfer Fähnrich. 
Jedes Kind in Mardorf bennt den „Fennerch“, d. h. sein Kelief 
riuf einer meterhohen Grabsteinplatte, die neben der dortigen 
irchturmtüre in das Gemäuer eingefügt ist. Das Bild zeigt einen 
einen Kopf von adligem Typ, mit Knebelbart und burz geschorenem 
haupthaar, eine bräftige, gedrungene Gestalt mit Halsbrause, 
auschigen Kniehosen und eng ansiegendem Wams, ohne Waffé 
ind Rüstung, nur in der Kechten eine burzschaftige Fahuͤe, die sich 
inter Kopf und Rücken ausbreitet und unter dem in die Hüfteé 
gestemmten linken Arme nach vorn durchlegt. 
Die Dorfbewohner haben ein pietätvolles Gefühl für den 
rähneich, wenngleich die Überlieferung nur das Wenige von ihm 
u berichten weiß, er sei im Dreißigjaährigen Kriege von den Feinden 
m Amöneburger Hohlweg erschlagen worden, habe sich, schwer 
erwundet, zurückgeschleppt durchs Dorf bis an den „Moritze-Hof“ 
ind sei dort tot zujammengebrochen.) 
Die zum Teil bis zur Anleserlichbeit verwitterte Umschrift des 
Zildes am Turme läßt Folgendes entziffern: „...... Fehnderich 
illhier zu Mardorf im Felde von niederläüdischen Keutern er“ 
chlagen ward. Gott gnadig sein.“ 
Obschon die beiden Quellen sich ergänzen, verbreiten sie doch 
iur schwaches Licht über die Person und Bedeutung des Fähnrichs. 
Voesentlich gellärt wird die Sache durch folgendes geschichtliche 
kreignis: Im Jahre 1619, also im zweiten Jahre des Dreißigjährigen 
Zrieges, rũckte eine Abteilung niederländischer Keiter?) in das 
Ohmtal ein und heischte von Mardorf und Roßdorf Quartier und 
derpflegung. Die Mardorfer, sicher zeitig unterrichtet, haften 
chnell Verstärkbung aus KRoßdorf, Amöneburg und Neustadt ) heran-⸗ 
jezogen und setzten, d00 Mann starb, vor dem Dorfe sich zur Wehe. 
S Ein 2 Meter hohes, plumpes Sandsteinkreuz ohne Schrift oder Sahl bezeichnet 
ie elle. J 
—— ein Hilfstrupp für den „Winterkönig“ auf dem Wege zum Kriegs- 
au 
9 MWostabt verlangte nachträglich von Mardorf eine beträchtliche Entschädigung 
ür die geleistete Hilfe.
	        
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