Full text: Heimatschollen 1921-1925 (1. Jahrgang - 5. Jahrgang, 1921-1925)

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Heimat Schollen 
Slätter zur Pflege hessischer Art. Geschichte und Heimatkunst 
Iõ/ lo28 
— 
Erscheinungsweise 2 mal monatlich. Bezugspreis 1,20 Me. im Vierteljahr. Frühere J 
Jahrgänge bönnen. soweit noch vorrätig, vom Heimatschollen-Derlag nachbezogen werden 5. Jahrgang 
Heimat und Nationaldichtung 0 Von Will Scheller. 
Der röomische Geschichtsschreiber Tacitus hat in sjeinem 
Werk über die Deutschen den Satz geprägt: Frisia non 
cantat, zu deutsch: die Friesen singen nicht, sie haben beinen 
Sinn für das Schöne. Diese Behauptung, im ursprünglichen 
Bezug und vor mehr als anderthalb Jahrtausenden vielleicht 
berechtigt, inzwijchen aber zweifellos zur Kedensart herab— 
gesunken, hat eine seichte Kulturbetrachtung von den Friesen 
auf die Hessen übertragen; aus welchem besonderen Grunde, 
weiß kein Mensch. Aber zumal bebanntlich nichts auf der 
Welt auf so festen Füßen steht, wie der Irrtum, hat sich auch 
dieses Schlagwort festgenistet im zeitgenössischen Tages- 
geschwätz — dergestalt, daß ein Fremder, der es hört, leicht 
zu dem Glauben verleitet wird, es gebe überhaupt bein 
geistiges Leben und Schaffen in Hessen, in jener deutschen 
Landschaft, deren Bewohner am längsten von allen deutschen 
Stämmen an der von ihren Vorfahren, den Chatten, in ur— 
geschichtlicher Zeit besiedelten Scholle haften. Und es ist in der 
Tat ein solcher Ireglaube, obwohl schon ein flüchtiger Blick auj 
die wirklichen Derhältnisse lehrt, daß eher das Umgebehrte 
der Fall ist! Infolgedessen wird es den Wissenden als eine 
Ehrenpflicht erjcheinen müssen, immer wieder gegen den Stachel 
jenes Irrtums zu löcken und an seiner endgültigen Uber— 
windung nach Kräften mitzuwirben. Dazu soll auch die 
gegenwärtige Betrachtung einen Beitrag liefern. 
Selbstverständlich Lann hier nicht von einer Heimatpoesie 
die Kede sein, die sich darauf beschränkt, örtliche oder land- 
schaftliche Interessen in gemeiniglich anspruchsloser Form zu 
pflegen. Diese sicherlich gut gemeinten Erzählungen gern 
geschichtlicher Art und Versfolgen, meist gemütlicher Prägung, 
— 
literaktur angesprochen wird. Wie sehr auch immer ijene 
Frzeugnisse der Förderung des Heimatbewußtseins dienen 
nögen — sie verhalten sich zur lebendigen Dichtbunst ähnlich 
vie das Moos, das am Boden üppig wuchert, zu den 
Zäumen, die sich hoch droben im freien Kaum braftvoll und 
vesentlich entfalten. Wenn von dem Anteil Hessens an der 
eueren Dichtbunst in Deutschland gesprochen werden soll, 
zann kann sichs nur um solche Autoren handeln, deren 
erechtigter Anspruch auf Geltung über den Heimat— 
»ezirk hinagus, weit hinausgeht, ganz gleichgültig, ob sie 
ich in ihrem geistigen Tun mit diesem selbst befassen oder 
ucht. Denn nicht das Gegenständliche entscheidet den Wert 
ünstlerischer Schöpfungen, sondern allein die allgemein mensch⸗ 
iche Geistes- und Herzensbraft, mit der sie zum Besitztum 
der Nation geläutert und gestaltet worden sind. 
Auf diese Weise, aber auch nur auf diese Weise wandelt 
ich die Heimat von einem lediglich gefühlsmäßigen Begriff 
ur nationalen Macht. Es vollzieht sich hier eine geistige 
Umwertung vom Besonderen zum Allgemeinen, vom Ein— 
amen zum Gemeinsamen, von der Gebundenheit zur Freiheit, 
hne daß die lauteren Lebensquellen, die im heimatlich 
Besonderen und Gebundenen strömen, dabei zu versiegen 
rauchen. So läßt sich sagen: mag Deutschland auch viel 
in äußerem Besitz verloren haben, ihm ist doch viel geblieben, 
vas beine Swangsmaßnahme ihm entwinden kann — die 
heimat in ihrer vielfältigen Erscheinungsform, und das, wenn 
iuch häufig unbewußt webende geistige Schaffen der 
hHeimat, das in seiner urlebendigen, reichhaltigen Lebensart 
a die Grundlage bildet für das geistige Dasein des 
janzen Volkbes. And je tiefer jemand von seinem heimat— 
ichen Standpunkt aus eindringt in das geistige Dasein des 
eufichen Volkes. um so größer ist sein Staunen über den
	        
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