Full text: Heimatschollen 1921-1925 (1. Jahrgang - 5. Jahrgang, 1921-1925)

Sonntagsstill ist das Dörschen, kaum ein Mensch läßt sich blicken, 
Sescheid zu geben auf, unsere Frage nach dem Wege. Die Häuser 
imdrangen das Kirchlein, dessen Sugangsweg einem schmalen, grün 
berwachsenen Laubengange gleicht. Seim Verlasjen des Dörfchens 
perschũiten uns die Wolken mit ihrem unerwünschten Segen. Doch 
rabt das die Stimmung nicht. Steil geht's hinter dem Dorf den 
Pfad zur Höhe hinauf. Oben lächelt wieder die Sonne. Sur 
inken laucht der Blick in ein schluchtartig tiefes, herrliches Waldtal. 
Am Wegebreuz trennen wir uns. Die enen wenden sich links nach 
der Franzosenstraße, der alten Grenze zwischen dem Hessengau und 
der khũringischen Germaramarb, wir anderen steigen nach Wollstein 
hinab. Woilstein, das verlassene Dorfchen — wie lange schon war 
das Siel meiner Wanderwũnschel Wie oft schon ließ ich mir 
‚on ihm erzählen: wie es in den siebziger Jahren von jeinen 
Sewohnern, die nach Amerika gingen, verlassen wurde wegen 
einer Hoͤhenlage, die das Scharwerken des Landmanns mit kargen 
Ertirãgen iohnte; wie im verlaßsenen Kirchlein ein Glöckchen hing, 
das seine Stimme ũber die Wälder erschallen ließ, wenn ein Wanderer, 
der sich in diese Welkabgeschiedenheit verlief, am Glockenstrang zog. 
Lange Seit wohnten nur ein Knecht und eine verwitwete Frau als 
Magd in Wollstein, bis sie im Weiltkrieg sich endlich entschlossen, 
einander zu freien. Doch bedangen sie sich aus, daß sie nur im 
Wolisteiner Kirchlein und nicht anderswo getraut werden wollten. 
Und so geschah es dann auch. 
Die Feidmark, die wir durchschreiten, bann nur karge Ernten 
penden. Nur als Weidefläche wird sie einen Ertrag abwerfen. 
Hrundwasser sickert an allen Stellen hervor und rieselt ins Tal 
inab. Wir bommen näher. Im Hohlweg, der zum Gutshof führt, 
zrhebt sich am Steilhang ein alter Sirnbaům, der alle jeine Wurzeln 
einwendig in die Wand des Weges jchlägt und so den Stamm fest 
überm Bodenlosen hält. Erdbeeren laden späireif zum Genuß, 
ꝛrmangein aber der kLöstlichen Sũße dieser Frucht. 
Das erste Haus am Eingang zum Gutshof steht noch von 
rüher her; doch mußt' es innen von Grund auf erneuert werden. 
Auf seinem vorspringenden Mauerrand sehnt noch die alte Gemeinde⸗ 
afel· Dorf Woillstein Kreis Wißtz enhaujen Kegierungsbezirkb 
Casßsel.“ Darũber hangt die neue Tafel an der Wand: „Gut 
Soslsiein Kreis Wikenbausen Kegierungsbezirk Cassel.“ Erst der 
Oberbaufungen: Chor der Stiftskirche. 
Anblick dieser Tafel läßt uns wirklich glauben, daß Wollstein ein 
Dorf gewoejen ist, richtiger ein Doͤrschen, das sogar eine Schule 
hatte, die jetzt noch steht und einem Knecht als Wohnung dient. 
Auch das Gutshaus, ein sauberer Fachwerbbau, stammt aus den 
ierziger Jahren und sieht in jeinem Weiß ganz sonntäglich aus. 
mütlen auf dem geräumigen Hof, den praktijch angelegte Scheunen 
nd Stallungen umgeben, stäubt ein Wassersirahl in ein gußeisernes 
Secken. Vom sorgsam gepflegten Garten aus, den wir unter liebens⸗ 
durdiger Führung der Gutsherrin besichtigen dũrfen, bietet sich eĩn 
Slick kalab auf ein Idyll in waldumschlossener Einsamkeit. Hohe 
Pappeln rahmen einen Steilhang ein, wo eine Herde schwarz und 
deiß gefleckter Friesenbũhe weidet. Der Wald teitt nah heran. 
Am Abend, wenn der Mond im Osten aufsteigt, muß dieses Land⸗ 
chaftsbild das Herz zur Andacht stimmen. 
Dir treten auch ins Kirchlein ein. Wie blein und fein! Und 
var doch vor wenig Jahren noch ganz verwahrlost und verfallen. Am 
Soden wuchs das Gras. Die neue Gutsherrschaft ließ das bleine 
dosteshaus in wũrdiger Weise wieder herstellen. Den Altar mit 
dem Krugifixus zwischen hohen Kerzen schmũcken heute Asternstrãuße. 
Auch vor dem Bilde Dr mit dem gnadenreichen Herzen duften 
olche Blumenopfer. as alte Glochlein möcht' ich sehen. Wir 
eigen hinauf. Doch jehlt die Treppe, die von der Empore zum 
urm führt. Auf eines Wanderfreundes Schulter steigend, erreich' 
h das Gebälk und blimme bis zum Glöcklein. Es ist nicht mehr 
Is aite; pielleicht hat das der Krieg geholt. Ein neues Glöckchen 
ãngt im Turm. Es trägt die Inschrift „Ave Maria“ und die 
ahresʒzahl 1921. Auf dem Balken über der Kirchentũr steht zu 
esen: „Dieser Kirchenbau ist erbaut durch den Zimmermeister 
hartung 1821.“ Da⸗ 
aals muß also die 
leine Gemeinde 
oirtschaftlich nicht 
llzu schlecht gestellt 
ewesen jein; denn 
in Kirchenbau, und 
ei er noch so klein, 
efordert Kosten. 
weifellos stand 
uch vor 1821 hier 
hon eine Kirche. 
kin bleiner Grab- 
tein auf dem Kirchhof 
rägt noch deutlich 
2s8bar die Jahres- 
ahl 1523. So hat 
iuch dieser stille 
Valdwinkel seine 
heschichte, wenn sie 
uch im Dunbeln, im 
dergesjen liegt. 
Talauf dem Wald 
ntgegen! Der Hafer 
teht noch auf dem 
dalm und wartet lan · 
je schon auf Sonne, 
im zu reifen. Den 
Valdweg, den wir 
un betreten, jäumen 
Veymouthsbiefern 
mit langen, zarten Nadeln. Wir biegen bald vom Wege ab und folgen 
inem Pfade zu den Großen Steinen, die das Volb auch Hollensteine 
jennt. Grotesk gestaltet, mit Vorsprüngen gleich den Köpfen vor— 
intflutlicher Tiere, ragen die mächtigen Zechsteindolomitfelsen empor. 
dem ANuge bietet sich der Anblick des herrlichen Waldbereiches 
wischen Wohra und Schemmerbach, jal· und schluchtenreich, hier 
ind da mit Lleinen Ausschnitten aus den scholienbraunen Dorf 
emarkungen. In der Ferne hebt sich der Steilabsturz des Heldra⸗ 
leins gegen den regenwolbengrauen Osthimmel ab. And drũben 
vdlbt sich der Frau Hollen·Serg, der jagenklangumrauschte Meißner. 
Ein unvergleichlich schöner Ausblick auf Hessens grũne Wãlderwogen, 
die hier und dort in einem hohen Wellenberg zusammenschlagen. 
Im nahen Keichenbach winki frohe Einbehr; sͤe gibt Erfrischung 
ind Erholung von dem Auf und Ab der Wege. Dann steigen 
vie zur hochgelegenen Ordensbirche hinauß, wahrscheinlich auf den 
ßrundmeuern einer alten Klosterbirche errichtet. Der Turm wirbt 
nassig wie ein Bergfried. Er deutet darauf hin, daß die Kirche 
zinjt befestigt war. Die Schönheit des romanischen Gotteshauses 
nit seinen wuchtigen SGäulen und reichverzierten Kapitellen wird 
est durch bunstverständige Ausmalung voll zur Geltung Lommen. 
Zeim Verlaßsen des Dorfes in der Kichtung auf KRuine Reichenbach 
mtdecken wir an einem der leßlen Häuschen eine sinnige Haus ⸗ 
nichrift: „Wenn auch unser Heim nur blein, 
Gottlob, daß wir zufrieden sein.“ 
Auf gemächlich ansteilgendem Weg bommen wir dem Siele näher. 
doch vor dem Aufstieg bietet sich von einem Kahlhieb rechts des 
Veges ein lohnender Slick auf die Lichtenauer Hochfläche, auf 
friedrichsbrũck, den Kaufunger Wald mit Silstein und Hirschberg, 
uf Rommerode, Sahnhof Walburg, Velmeden und Laudenbach, 
ausen am Meißner und Hopfelde. Dann weiter aufwärts! VDon 
er Waldwiese unterhalb der Kuine wendet sich der Blick zurück: 
Sonnenschein Dorf Reichenbach mit jeiner hohen Kirche vor 
inem Bergsaltel, der vom bahlen Kindelberg zum Eisberg streicht; 
in kannendunkler Höhenrũcken riegelt fern den Soergpaß ab und 
jibt dem Dorf den großen Hintergrund. Darũber taucht der Kinggau 
uf; scharf zeichnel sich die Boyneburg ins silbergraue Licht. 
Der Bergfried der Kuine ist gesperrt, weil jein Besteigen 
oegen Baufänigkeit nicht ungefähelich ijst. So muß der Wanderer 
uf den Ausblick, der sich hier nach allen Seiten bietet, zu seinem 
deidwesen berzichten. Was sonst an bärglichen Trũmmerresten noch 
Oberbaufungen: St. Georgsbirche.
	        
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