dem Aussichtsturm, und auf den steilen Nordabsturz des Meißners.
Lichtgrũner, hoher Adlerfarn steht hier in dichten, großen Beeten.
Im Schirmschlag äst ein Keh. An der Wilddiebseiche, einem
aAlten, hohlen Stamm mit morscher Krone, erreichen wir den Höhen
eũcken, der den Ausblick nach der Werra freigibt und bis zum
Kand des Eichsfelds. Auf sonniger Halde erhebt sich zwischen
wurzeltiefen Stubben ein wahrer Wald rotblũhenden Fingerhutes.
Hummeln läuten in den Fingerhutglocken, während wir den nieder⸗-
gebrochenen Riesenast der Wilddiebseiche zu burzer Rast erkũren.
Und nun hinab zum Jagdhaus am Umschwang, das in Rudol
Herzogs „Lebenslied“ verewigt ist. Erdbeeren locken zum Genuß.
Dem alten Franzosenweg abwärts folgend, erreichen wir eine
idyllijche Waldwiese. Unter einem Baume sitzt in Paradiejes-
unschuld ein junger Wandervogel im Adamskostüm und — stopft
sich seine Strümpfe. Dies heilere Sommeridyill entläßt uns bald
zu einer Stätte tragischen Geschehens. Wir treten unweit Forst⸗
haus Nonnenholz in eine Tannendickung. Auf einem kleinen,
runden Platz erhebt sich ein Granitblock mit der Inschrift: „Hier
fiel durch Wilderers Hand der Königl. Förster Karl Knoche
am Weihnachtsabend 1913**). And an der Stelle, wo von ruch⸗
loser Hand die einmalige, heilige Lebensflamme eines Menschen
erlosch, wird uns die Tat lebendig.
Der Förster ging am Heiligen Abend in den Wald. Man
eaunt, er habe burz vorher für seinen Kleinen zum Bescherungs-
abend Christgeschen?e mitgebracht. Die Frau, die Mutter jeines
Kindes, hätte sich sehr ungehalten gezeigt, weil sie zu teuer seien,
habe ihm alle Freude, wie schon oft, verkümmert, und in dieser
Stimmuͤng sei er in den Wald gegangen. Er war nicht weit
gekommen, als ihm eine geduckte Gestalf über den Weg lief. Er
dachte wohl, es sei ein Vater, der sich verbotener Weise noch ein
Weihnachtobäumchen holen wolle, und ging so dem Entschwundenen
in die Bickung nach. Da brachte schon der Schuß. NAuf fünf
Schritt Entfernung jagte ihm der Wilderer eine Ladung Schrot
in den Hals; ein Schrotborn traf die Schlagader. In seiner
Todesnot riß der Getroffene die Büchse hoch und feuerte noch
zweimal. Er fehlte. Dann schleppte er sich heimwärts, den Mantel
an den Hals gepreßt, das Blut zu stillen. Von einem Telegraphen -
mast zum andern schleppte er sich, wie andern Tags die Spuren
noch bewiesen. Am Gaͤtter. das sein Heim umhegte. blieb er
lehnen und — starb.
Der Wilderer hatte seinen Hut am Ort der Tat verloren.
Er war ein kleiner Bauer aus dem Dörfchen Hubenrode, der mit
der Stockflinte jagen ging. Er hetzte durch das Tal des Hungers-
häuserbaches heimwärtis und ging wie alle andern Christenmenschen
n die Lichterbirche, die noch nicht angefangen hatte. Kräftig sang
x mit. Doch nach dem Gottesdienst eilte er spornstreichs zum
Vald zurũck, den Hut zu holen. Doch Hut und Opfer waren
chon gefunden.
Kleinalmeröder Männer kbannten den Hut und seinen Eigen-
ümer. Als andern Tags die Landjäger erschienen, den Täter fejst
unehmen, da war er schon flüchtig gegangen. Lange Seit hielt
rsich in den Wäldern, die er wie beiner bannte, und bei Ver⸗
pandten verborgen. Voch endlich trieben Not und Frost ihn der
herechtigkeit in den Aem. In Witzenhausen, wo er eines Nachts
neinem Tanzsaal auftrat, erreichte ihn das Geschick, nicht ohne
aß er fast noch ein zweites Opfer gefordert hätte. Der Schuß
sing fehi. Als das Gericht mit ihm am Ort der Tat erschien, da
aih er Frau und Kinder. die bitter weinten, zum letztenmal in
iesem Seben. Bei der Verhandlung zeigte er sich sehr verstockt.
ẽr leugnete hartnäckig und beschuldigte einen Seugen der Tat.
Das Urteil lautete auf Todesstrafe und ward vollzogen. —
Im Forsthaus Nonnenholz, das eine reizende Lage hat, finden
vir bei dem Nachfolger des erschossenen Försters freundlichen
Villkomm und gastliche Bewirtung. Auch von der reichen Kirschen-
ente haben uns Eichbater und Häher noch genug übrig gelahssen.
Wir brechen auf, als schon die Dämmerung ihre weichen
schleier zwischen hohen Stämmen webt. Der Wagen bringt uns
surch den Allmannsgrund zum Umschwang. Grauweiße Noacht -
alter umschwärmen die nickenden Köpfe der Braunen. Am
Fagdhaus Kast und Abendimbiß. Dann mit dem Stecken in der
Zand auf Schusters Kappen weiter. Johannisbäfer leuchten aus
em Heidebraut. Hoch ũber dem Bilstein steht ein großer heller
ztern und schaut in die dunklen, vielverzweigten Waldgründe.
die Seele Goethes ist um uns. „Uber allen Gipfeln ist Ruh.
in allen Wipfeln spũrest du kaum einen Hauch. Die Voglein schweigen
m Walde. Warte nur, balde ruhest du auchl“ Kuhe und Frieden
aeen aus mitternãchtigen Wäldern in jede ehrfurchtsvoll schweigende
z»eele.
Hrei Tage in den Wäldern .... verflogen wie ein schöner
Traum.
Wie tief und heiljam diese Waldstille war, das wurde mir
erst vollbewußt, als mich wieder der unsinnige Lärm des Lebens
n der Großsiadt, wenn auch nur auf wenige Stunden, umbrandete.
ind als der Sug den Tunnel bei Guxhägen durchfuhr und die
Tunnelwände das Getöse der rollenden Räder auf die kleinen
VDagenzellen warfen, da machte mir das Tosen die Tiefe der
Valdesjtille, die weit dahinten war, ganz fühlbar bis in meines
Vesens Grund.
VDom Pulsschlag der Heimat.
VDolkskundliche Anschauungen und
Gebräuche Niederhessens
mit besonderer Serũcksichtigung der Stadt Homberg.
Große Freude herrscht in der Familie, wenn der Storch))
eingekehrt ist und aus dem Erleborn?) einen bleinen Bruder oder eine
lieine Schwester gebracht hat. Schon wochenlang vor der Geburt
singen die jüũngeren Geschwister:
„Storch, Storch, Bester,
Sring mir eine bleine Schwoejster,
Storch, Storch, Guter,
Bring mier einen bleinen Bruder.“ —
„Storch, Storch, Steiner,
Mit den langen Beinen,
Mit den kurzen Knien.
Imnanen Marie
at ein Kind gefunden,
War mit Gold gebunden.““)
Um das kleine Brũderchen oder Schwesterchen recht bald zu
rwarten, legen jüngere Geschwister an jedem Abend ein Stück-
hen Würfelzucker vor das Schlaßzimmerfenster der Mutter. Hat
iun der Storch den Wunsch erfüllt, so besteht die naive Auffassung,
der Storch habe die Muttér dabei ins Bein gebissen. weshalb sie
iuf einige Seit das Bett hũten müsse.
Ein allgemeiner Brauch ist es. unter der Wickelschnur Sucker⸗
verk zu vorffecken. das dann don Kindern, die noch an die mytho—
VOolksbundliche Anschauungen und Gebräuche sind bultur⸗
historijche Werte, die man achten muß. Die Geschichte belehrt uns,
daß mit Ausnahme der Friesen die Hessen der einzige deutsche Stamm
sind, der sich von der großen Völkerwanderung des Mittelalters
nicht hat bewegen lassen, seinen alten Wohnsitz an irgend einer
Stelle zu verändern oder einem der Wanderstämme zu gestatten,
sich in jeinem Gau niederzulassen. Machtlos brachen sich die hoch-
gehenden Wogen des in der Tiefe aufgeregten Völlermeeres an
seinen Bergen. Diesen historischen Tatsachen zufolge hat sich der
deutsche Volksgeist lediglich in Hesjen rein und unvermijcht erhalten;
woraus sich weiter ergibt, daß auch die Anschauungen und die
Gebräuche, wie sie in Hessen vorkommen, für die Kulturgeschichte,
besonders fjür die Mythologie von hoher Bedeutung sind. Ansere
hejsischen volksbundlichen Anschauungen und Gebräuche bilden
gleichsam den geistigen Niederschlag des in unseren heidnischen Vor-
fahren einst pulsierenden Lebens. Darum können dieselben nicht
ohne Kenutnis der Dergangenheit verstanden werden. Nur im
Lichte der chattischen Vorzeik wird ihr Sinn und ihre Bedeutung
uns blar und verständlich. Im folgenden will ich auf die in Hom.
berg noch fortlebenden Anschauungen und Gebräuche eingehen,
die an die Sagenzeit unserer chattischen Vorzeit erinnern und noch
heufe den Lauf des menschlichen Lebens begleiten.
) Am Kinderbrunnen der Frau Holle, der Beschützerin der Ehe, hat der Storch
eine Heimat. Er ist der Vogel dieser Göttin, da er sich durch besondere Keuschheit
ind einen häuslichen Familiensinn vor allen Vögeln auszeichnet. (Kolbe, Seite 160.)
2) Der Gedankbe, daß die Seele der Menschen aus Quellen hervorgehen, d. h.
iner unter der Erde befsindlichen Welt stammen, und dieser Gedanbe ist es, welcher
insern Brunnensagen und Storchliedern zu Grunde liegt, hat seinen Ursprung im
Nythus von der Frau Holle, die die Kinder vor der Geburt in ihrer Gbhut hat.
Mühlhause, Seite 13.)
) In diesem Liedchen blingt der Volksmund an die Mythologie des Nornen-
andes an. Es erinnert an den alten Brauch, dem Täufling Goldmünzen als An-
ebinde zu spenden, da Gold neben der, Seide besonders glückverheißend schien
nd die Gewähr böt, dem Kleinen dereinst Reichtum zu sichern. (Kolbe, Seite 161.)
) Am Ort der Tat errichteten die Forstbeamten des Kaufunger Waldes ihrem
in treuer Pflichterfüllung und als Opfer seines Berufs gefallenen Kameraden diesen
würdigen Denkstein zur bleibenden Erinnerunqg.