Heimat · Schollen
Slätter zur Pflege hessischer Art. Geschichte und Heĩmatkunst
Ne. 12/ 10258
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Irscheint 2mal monatlich. Bezugspreis 1,20 Mbo. im Vierteljahr, einschl. Porto. Frũhere —
Eahrgãnge bönnen. soweit noch porrätig, vom Heimatschollen-Derlag nachbezogen werden 8. Jahrgang
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Slitzschlagyꝰ 0 Von Carl Haeberlin.
Die ärztliche Morgenarbeit war getan. Eine lange Sprech⸗
stunde und eine ihr solgende Keihe von Krankenbesuchen
lagen hinter mir. Dann hatten wir unsere Mahlzeit am
Familientisch eingenommen und, während draußen ein Gewitter
niederging, dabei miteinander von den Plänen der Jungens
für ihre Ferienwanderungen gesprochen. Jetzt war noch eine
biertel Stunde der Kuhe, ein burzer Schlaf, eine Entspannung
bon Körper und Geist vor dem Beginn der Nachmittags-
—E
BSesucher der Nachmittagssprechstunde nebenan ins Warkte⸗
zimmer treten. Sugleich eilen auch Schritte hastend die
Treppe herauf, es klopft an mein Simmer, und schon steht
das Hausmädchen in der Tür:
„Herr Dobtor, bommen Sie gleich, es ist ein Mann
vom Blitz getroffen.“
„Wer — wo?“ Ich trete schnell an die Treppe. In
der offenen Haustür steht regennaß mit lehmigen Stiefeln
ein Bauernbursche und weist, als er mich sieht, mit dem rechten
Arm zum Tor. Kasch bin ich drunten; auf der Straße
hält vor dem Hause ein schönes Bauerngespann, im rieselnden
Kegen stehen vor dem Wagen die schmucken, starben Acker-
pferde mit durchweichten Mähnen, der blanke Messingbeschlag
der Kummete glänzt auch im Regenwetter. Ich erbenne
das Gespann des Landwirts Möller, der mit den Seinen
das große Bauerngut bewirtschaftet, das er krotz der schlechten
Zeiten in zähem Fleiß in den letzten Jahren nicht nur durch—
gehalten, sondern auch erheblich verbessert hat, und den sie
hier nur den Möllerpeter nennen. An die hohe seitliche
Sretterwand des Ackerwagens gelehnt, steht mit verstörtem
shol u „Blätter aus meinem Lebensbuche“ von Dr. Carl Haeberlin, Heimat-
Slick Anna, Möllers sechzehnjährige Tochter; ihr brauses
haar hängt wirr an den Kopfseiten und über die Stirn
herunter. Weinend und zitternd sitzt ihr gegenüber auf dem
Sochelstein der Garteneinfassung ein zweiter Jungknecht.
Mein Blick trifft den ihren, sie deutet auf den Wagen:
Der Vater.“
Die hohen seitlichen Bretterwände versperren den
Finblick in den Wagen, aber hinten ist er offen, und von
ier sieht man auf dem Boden etwas Längliches unter
ein paar Satteldecken liegen. Ich steige hinauf, hebe die
Decken weg, und vor mir liegt der Möllerpeter, die hageren,
erwitterten Gesichtszüge fest zusammengepreßt, Augen
ind Mund geschlossen, bleich, tot. Als habe er in einer
ingeheuren Anspannung gestanden und als sei diese Anspannung
nit ihm hinübergegangen ins Nichtsjein, als ob das ttote
Antlitz ein Abbild eines furchtbar gewaltigen Augenblicks
est bewahre. Die Aerme hält er gebeugt, die Hände, die
vor der Mitte des Leibes sich hart berühren, haben alle
Finger fest zur Faust zusammengeballt. Kock und Weste
tehen weit offen, das in der Mitte zusammengeknöpfte Hemd
st über der linken Brustseite zerrissen, und dahinter dunbkelt
n der Haut ein rotbraunes Brandmal. Vom Toten wende
ch mich zurück zu den Lebenden, auf deren Gesichtern noch
risch etwas von dem grauenhaft Gewaltigen steht, das in
einer ganzen Größe der Tote allein gesehen hat. Mit
ibgerissenen Worten erzählt das Mädchen. Sie waren mit
dem Wagen auf den Mcker drüben über dem Bahnhof,
hinter dem Stellwerk, gefahren; ein Wetter zog auf, aber
2s regnete noch nicht. Sie waren vom Wagen abgestiegen
ind überlegten, ob sie die Arbeit beginnen sollten. Ganz
ahe standen die vier noch zusammen, und nach dem Himmel