Full text: Heimatschollen 1921-1925 (1. Jahrgang - 5. Jahrgang, 1921-1925)

Wandern ebenso geheimnisvoll wie das Leben selbst. Leben ist 
nur da, wo Bewegung ist. Bewegung aber bedingt einen steten 
Vechsel. Wo finden wir nun einen ausgedehnteren Wechsel als 
hei der Natur, zu der uns ja das Wandern ganz naturgemäß 
führen muß. „Die Welt ist innerlich ruhig und still, und so muß 
auch der Mensch sein, der sie betrachten will.“ (Gottfried Keller.) 
Die Natur will aljo verstanden sein. Darum müssen wir sie uns 
auch mit ihrem Werdegang betrachten, wie sie eine Menge Hinder⸗ 
nisse aus dem Wege schafft, um sich Achtung und Geltung zu ver— 
schaffen. Unsere Naturbetrachtung muß erfüllt sein von Ehrfurcht 
bor ihr. Rur so werden wir ein Erleben 
haben, das uns erst die richtige Lebens— 
weihe gibt, die uns ũüber das Alltagserleben 
erhebt. Dann wird uns auch die Natur eine 
liebe Freundin sein, die uns in allen Lebens⸗ 
agen treu bleibt und bei uns nur Freude 
auslösen möchte. Freude ist Ozon für Leib 
ind Geist, sie erhältf und nährt den Optimismus 
und wehrt dem Pessimismus. „Freude und 
Ergötzung tun dem Menschen ebenso notwendig 
vie Essen und Trinken“, meint schon Dr. Martin 
Luther. Die Freude an der Natur sei aber 
iimmer ehrlich und natürlich. Krankhafte 
Naturschwärmer sind mir ebenso zuwider wie 
römmeinde Schwäher, die, während sie doch 
noch gesund und munter auf Gottes herrlicher 
Erde piigern, fortwährend nur vom himmlischen 
Heimatziel und von einer „Erlösung aus diesem 
jammertale“ reden. Woher bommt es nun 
aäber, daß so vielen sogenannten Wanderern 
die Befähigung, die Ratur in ihrer erhabenen 
Sröße zu würdigen, und damit zugleich der 
wahre Genuß einer Wanderung ganz und gar 
ibgeht? Warum bommt das Samenborn 
des Gefühls für das Schöne und Erhabene 
in der Natur, obwohl es doch der Schöpfer 
in jedes Menschen Brust gesenkt hat, bei 
berhältnismãbig so wenigen zum Keimen? 
Einfach, weil biele Leute mit ihren leiblichen Augen nicht sehen 
und mit ihren leiblichen Ohren nicht hören können. Die 
Fahigkeit, Landschaften und Naturstimmungen durch das Auge 
unmitelbar festzuhalten, kann aber durch UÜbung erworben 
werden. Wenn der Wanderer erst wirkblich schauen gelernt 
hat, so wird er bald selbst herausfinden, was schön und 
was häßlich ist. Dann steht ihm auch der Weg zum 
isthetischen und bünstlerischen Schauen schon halb offen. Die 
zenußfähigbeit wird noch erhöht, wenn unser Ohr wieder hören 
ernt, weniger auf die schier ausartende Melodie der Mandoline 
ils vielmehr auf die Muttersprache der Natur, wenn es abgestimmt 
st auf das RKauschen des Waldes, das Murmeln des Baches, das 
ubeln der Lerchen. In diesem Sinne faßt RKiehl den Begeriff 
es Wanderns treffend zusammen: „Wandern heißt auf eigenen 
zũßen gehen, um mit eigenen Augen zu sehen und mit eigenen 
Dhren zu hören.“ Kommt zu den offenen Augen und den offenen 
OHhren als Drittes im Bunde das offene Herz, dann ertönt 
als Echo der Dreiklang: „Sonnenschein, 
Frohsinn, Liebe“. Wandersleute, die ein 
solches Naturgefühl erwandert haben, sind in 
der Tat glückselige Leute. Also freisch 
auf zum fröhlichen Wandern! 
„O wunderschön ist Gottes Erde 
Und wert, darauf vergnũgt zu sein; 
Drum will ich, bis ich Asche werde, 
Mich dieser schönen Erde freun.“ HSölty. 
Der Schandpfahl 
in Elmshagen. 
Wer von Hoof über die Langenberge nach 
dem durch seine hervorragende Aussicht be— 
annten Niedensteiner Kopf wandert, trifft im 
Dorfe Elmshagen ein Denkmal aus alter Seit 
an. Es ist dies ein etwa zwei Meter hoher 
Pfahl, an dem eine schwere eiserne Kette an- 
gebracht ist. Am Ende dieser Kette befindet 
uch ein ringförmiges Halsecisen. Dieser mittel- 
alterliche Schandpfahl diente dazu, die Abel⸗ 
äter, die sich gegen das Eigentum ihres Mit- 
menschen vergangen hatten, oder auch solche, 
die andere verleumdet hatten, öffentlich an den 
Pranger zu stellen, um sie jo dem Hohn und Spott 
der ODorübergehenden preiszugeben. In den alten 
Chroniken liest man viel von diesem vortrefflichen Mittel, die Böse- 
vichter zu besjern. Damit ein jeder wußte, was der pder die 
Zetreffende berbrochen hatte, wurde dem Sträfling ein Settel 
— 
ie Kedensart „Jemandem etwas anhängen“. Der Schandpfahl 
n Elmshagen wurde vor mehreren Jahren als Seuge unserer alten 
Herichtsbarkeit unter Schutz gestellt und mit einem Gitter umgehen. 
Der Schandpfahl in Elmshagen. 
Phot. W. Muhe. 
Der Eulenturm zu Melsungen 0 Von M. Herbert 7*. 
Auf der Friedhofsmauer hat Posten gefaßt 
Des Eulenturms Majestät. 
Aus seinen Scharten in Sonne und Glast 
Die Brombeerfahne weht. 
ESin Sämling hoch in der Rinne grünt. 
Und nachts mit dem Eulenflug, 
Wenn Tod das herbe Leben sühnt, 
Naht nebelnder Geisterzug. 
Es geht um des grauen Turmes Rund 
Die flatternde Prozession. 
Da werden viele Geschlechter bund, 
Der Dater und der Sohn. 
Die junge Frau, die im Kindbett starb, 
Wiegt ihr totes Bübchen im Arm. 
Ach, wie so kalt ist mein liebes Kind! 
Daß Gott sich meiner erbarm! 
Die schöne Maid in dem Hochzeitskranz 
5chwebt leuchtend im weißen Kleid, 
Sie wiegt und biegt sich im Mondenglanz, 
Ihre Tränen sind ihr Geschmeid. 
Und eine friert in dem nassen Gewand. 
Hat langes, triefendes Haar! 
Sie zogen mich an den Fuldastrand, 
Weil der Liebste so treulos war. 
Der fromme Prediger steigt aus der Gruft 
Und hält die Sibel hoch. 
Und ob ihr tausend Bücher schreibt: 
Dies bleibt das einz'ge doch. 
Das silberschneeweiße Mütterlein 
s5teht händeringend am Weg. 
Ich zog zehn Kinder dem Leben auf, 
Hing einsam den leßten Weg. 
Der greise Dobtor der Medizin, 
Der schüttelt den klugen Kopf. 
Ich habe so lange den Tod beschrien, 
Nun hält er mich lachend am Schopf. 
Der Geiger streicht sein Instrument. 
Das blagt und bittet und fleht. 
Das heischt und sucht — das glüht und brennt, 
Fin Liebeslied — ein Gebet. 
Die toten Soldaten marschieren heran, 
Sie kommen zu Fuß und zu Pferd, 
WVeil ein wahrer Deutscher nicht schlafen bann 
In fremder, feindlicher Erd' 
Und alles, alles, was jemals war 
Im Städtlein, in Frieden und Sturm, 
Ddas wallt und weht, eine Geisterschaar. 
Um den mitternächtigen Turm.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.