Full text: Heimatschollen 1921-1925 (1. Jahrgang - 5. Jahrgang, 1921-1925)

Endlich aber war das Holz erreicht. Rückschauend ge- 
wahrten sie einzelne Trupps nachfolgender Knaben und 
Burschen, die in heiterster Stimmung waren. 
Das raubte dem aufgeregten Manne seine mühsam be— 
wahrte Ruhe. Die leuchtenden Buchenstämme fingen vor 
seinen Augen zu kanzen an. Angstschweiß stand auf jeiner 
Stirn. Plötzlich blieb er stehen, tappte auf einen Stamm 
zu und wäre sicher zu Boden gesunken, hätte ihn nicht einer 
der Begleiter aufgefangen. Man wusch seine Schläfen mit 
Schnaps. Dazu nahm er auch einen bräftigen Schluck. 
„Nun geht das schon wiederl! — Es wurde mir ja auf 
einmal ganz schwarz vor den Augen! Wie das nur kam?“ — 
Die Umstehenden schauten in ein verstörtes Gesicht. — 
Die Stimmen der Jugend blangen nahe. Weiter ging es. 
Sald war die Hute erreicht. Die Morgensonne übergoß 
die Gegend mit ihrer lenzlichen Fülle. Gleich Kabeten 
schossen die tollen Jungen aus dem Gebüsch und überschlugen 
sich auf der schlüsselblumenbunten Aue. 
Das Land des Bürgermeisters trug Korn. Davor 
blieben die Männer stehen. 
„Ihr habt doch immer das beste Korn im Dorfe“, 
schmeichelte einer. 
„Na ja, wie der Karl aber auch das Ackerwerk versteht“, 
gab ein anderer bei. 
Sonst hatte der Alte das gern gehört. Nur heute lag 
ihm nichts daran, gar nichts. Er mochte nichts hören noch 
sehen. Am liebsten wäre er auf und davon gerannt. Er 
kannte sich ja selber nicht mehr. War er ein anderer ge⸗ 
worden? Ein Neues schien da auf einmal in ihm zu er— 
wachen, dem er nicht mehr ausweichen bonnte, das sich dem 
alten Menschen drohend gegenüberstellte: Heraus mit deinen 
Heimlichkeiten. 
Ein Kudel Knaben raste vom jenseitigen Waldrande 
mit Hurraruf daher: „Sie kommen, sie Lommen!“ — 
Dichter trat der Haufen zusammen. den Surgermeister 
in der Mitte. 
„Laßt uns erst noch mal trinben“, hieß es. Das Glas 
ging in die Runde. 
Einzelne Finger wiesen über die hügelige Flue. 
„Dort hinten am Holz! Siehst du sie da? Ein Keiter 
voraufl“ — 
Der Alteste aus dem Gemeinderat blopfte dem Bürger- 
meister auf die Schulter: „Weißt du noch, Hannes, vor 
sechzig Jahren, wir waren so Läufersl — Wo steht denn 
eigentlich der Stein. an dem wir unsere Ohrfeige be⸗ 
bamen?“ 
„Ja, ja“, lächelte der Bürgermeister wie ein VDer⸗ 
ʒweifelnder. „Das ist lange her, lange her“, sonst wußte 
er nichts. 
Sein starrer Blick hing an der Waldecke, als müsse 
sich von dort sein Geschick erfüllen. 
Ein Keiter tauchte ausf. Jetzt noch einer und wieder 
einer. Nun wälzte sich eine ganze Kavalbade über das 
hũgelige Gelände herzu. Der Wald gab das lustige Wiehern 
der Kosse schallend zurück. 
Die Eschenröder gerieten in Bewegung. Ein Lächeln 
lag auf allen Zügen, die der Morgenwind frisch gerötet hatte. 
Nur der Bürgermeister stand da, geisterhaft. totenbleich. 
Seine Augen tränten unaufhörlich. 
„Hurra, hurra“, schallte es auf beiden Seiten. Nun 
eitten die Städter zwischen die Eschenröder, und sie reichten 
einander die Hände. Ein langer Sug folgte krendelnd zu 
Fuß, und die hohen Buchenwipfel schauten verwundert auf 
ie durcheinanderwogende, fröhlich feiernde Menge. 
Der Bürgermeister der Kreisstadt trat, die Flurkarte in 
der Hand, auf die Eschenröder zu: „Die Eschenröder sollen 
eben!“ 
Ein schallendes Hoch brauste in die Lüfte. 
„And die Hohensteiner daneben!“ Ein dreifaches Echo 
jab der Wald zurück. 
Nun nahm der Hohensteiner Bürgermeister seinen Kollegen 
im Arm, führte ihn auf die Stelle, wo die Eschenröder 
sSrenze die des Nachbarortes ablöst und schritt mit ihm auf 
en elwa fünfzig Meter entfernten Grenzstein zu. In bunter 
Keihe folgten unter Lachen und Scherzen die Anwoesenden. 
Ein dichter Kreis umschloß am Grenzstein die beiden 
Oberhäupter. Der Städter sagte: 
„Die Hohensteiner Grenze ist richtig und bebannt, 
Der Herrgott hat alles in seiner Hand.“ — 
Darauf ergriffen vier Hohensteiner den Eschenröder an 
Armen und Beinen, um ihn in der üblichen Weise mit dem 
Srenzsteine in Berührung zu bringen. 
Sei ihm aber hatte die Erregung ihren Höhepunkt 
ꝛrreicht. 
Kaum hielten ihn die Männer umfaßt, als der schwere 
Mann wild um sich schlug und wie ein Toller sich gebärdete. 
Aber solch Benehmen überrascht und erschrocken, ließen 
ie die Hände los, und der baumlange Mann fiel hart zu 
Boden. 
VDorwürfe wurden laut: „Ihr mußtet doch festhalten !“ 
So hat das beiner gemacht, er ist selber schuld“, wehrten 
ich die Männer. 
Winselnd krümmte sich der Alte. MWan richtete ihn 
uuf, er konnte nicht sitzen. Ein Keiter wurde nach dem 
Dorf beordert, ein Fuhrwerb zu holen. 
Der Hohensteiner Bürgermeister gab sich Mühe, von 
einem Koilegen eine Erklärung für das eigentümliche Der- 
alten zu erlangen, doch war der Verletzte zu keiner 
Außerung zu bewegen. Die Eschenröder erzählten von dem 
ʒchwãcheʒustand im Walde. Man war geneigt. einen Schlag⸗ 
infall anzunehmen. 
Auf einem Wagen mit Stroh und Betten holte Karl 
einen Dater heim. Die Eschenröder folgten und schüttelten 
ie Köpfe über das traurige Ende ihrer Grenzfahrt. Der 
ʒerbeĩgeholte Arzt stellte einen Bruch der Wiprbelsäule fest. 
An Heilung war in dem Alter nicht mehr zu denben. 
In seinen wilden Fieberphantasien weilte er im Osterholz 
ind am Grenzstein. Immer sorderte er die KRodhacke. 
„Er muß wieder raus, er muß wieder rausl!“ Das war 
ein ständig Wort. 
Und wenn Karl odere Trineben an sein Bett traten und 
ange fragten: „Was meint Ihr, VDater?“ dann jah er sie 
zläsern an: „Die Hacke, die Hackel Kaus muß er, raus!“ 
jef er unaufhörlich, bis er die Augen vor Mattigkeit schloß. 
Ohne die Besinnung wieder erlangt zu haben. ist er nach 
venigen Tagen eingeschlafen. 
Rach Jahren, als die Derboppelung kam, wurde den 
Eschenrsdern die Sache blar. Nun wußten sie, der Mann, 
den sie für untadelig gehalten, war auch einer wie sie alle, 
die immer nur den eigenen Vorteil im Auge haben. 
Um die Mitternacht will heute kein Eschenröder an jener 
telle vorbei, wo der Bürgermeister sich den Tod geholt. 
Denn dort geht er um, sagen sie, mißt die Acker und ver— 
etzt Steine. Der Schäfermärten hat ihn leibhaftig gesehen. 
Oon dem wissen sie os
	        
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