Full text: Heimatschollen 1921-1925 (1. Jahrgang - 5. Jahrgang, 1921-1925)

Heimat· Schollen 
Slätter zur Pflege hessischer Art. Geschichte und Heimatkunst 
He.s/ 1028 
Erscheint Nmal monatlich. Bezugspreis 1,20 Mb. im VDierteljahr, eiĩnschl. Porto. Frühere 
Jahrgänge kbönnen, soweit noch vorrätig, vom Heimatschollen⸗Derlag nachbezogen werden 
5. Jahrqang 
Der Grenzsteinꝰ 0 Von Heinrich Boertelmann *. 
Der Bürgermeister von Eschenrod hatte seinen Morgen- 
raffee eingenommen. Etwas beschwerlich schon fiel ihm das 
Aufstehen aus der Sofaecke. Der Sand auf dem blanb- 
gescheuerten Boden knieschte, als er zur Stubentür schritt. 
Er riß sie weit auf und rief: „Treineben!“ 
Seine Tochter, ein Mädchen mit breiten Hüften und hoch- 
gewachsen, kam aufgeschürzt und hemdärmelig herbei. 
„Seid Ihr fertig?“ 
Der Alte nickte, trat ans offene Fenster und überschaute 
orüsfend den großen Garten und die Wiesentiefen dahinter. 
„Die verdammten Gänse sind schon wieder in der Breite. 
Karo, pack siel“ — 
Ein heller Pfiff ertönte. Lautes Gebreisch und Geschnatter 
zündete seine Wirkung. Der Bürgermeister schlug das 
Fenster zu. 
„Der Schneider kommt zur Anzeige. Auf anderer Leute 
Wert ist gut Gänse halten! Wir Großen, wir müssen diese 
Kleinen ernähren. Das soll anders werden! Recht muß 
bleiben, wie bann sonst die Welt bestehn?“ — 
Dabei hatte er den dicken Schlüsselbund aus seiner Tasche 
geholt und sein Schreibbontor aufgeschlossen. Amständlich 
rückte er den alten Ledersessel herbei und ließ sich nieder. 
Trineken wischte die Tischplatte ab, hielt plötzlich inne, 
und mit den beiden starkben Armen aufgestützt, sagte sie: 
„Der Schneider, das ist mal einerl Habt Ihr es noch nicht 
gehört? Der will seinen Hof messen lassen.“ 
„Warum denn?“ 
Aus Landvolb“, Erzählungen von Heinrich Beetelmann. Heimatschollen-VODerlag. 
„Der Grenzstein ist weg. Der Franzjürgen soll zuviel 
nne haben. Wenn das rausbommt, wer den Stein über 
die Seite gebracht hat, das kann was geben!“ — 
Der Bürgermeister war verwundert herumgefahren: „Was 
agst du da? 'n Stein über die Seite gebracht! Sollt' man 
as glauben? — Das wird ja was geben, paß aufl — 
Das wird hart bestraft!“ — 
Trineken war fertig. Das Wischtuch in der Hand, trat 
ie vor ihren Vater und sagte: „Das ist auch recht so. Wer 
das kann, Vater, der ist ein schlechter Hund.“ — 
Der starrte das Mädchen mit seinen grauen Augen 
chweigend an. Anwillkürlich hatte er sein weißes Haupt 
geduckt, als erwarte er einen Schlag. 
In dem Augenblicke pochte es. Der Postbote. Sieh, 
in Brief aus der nahen Kreisstadt. Das weiße Kad im 
lauen Felde verriet seine Herbkunft sogleich. 
Die weichen, schon etwas zitterigen Hände entfalteten 
nisternd das Papier, während Trineken. mit dem Postboten 
cherzend, hinausging. 
Atemlos erhob sich der Surgermeister, holte aus der 
lauleinenen Hausjacke seine Brille und las. Er zuckte 
ujammen. Noch einmal las er. J 
Kopfschũttelnd ließ er das Papier aus den Händen 
inben und stierte vor sich hin. 
Nach einer Weile lehnte er sich zurück. Dabei fiel sein 
Slick zufällig in den großen Spiegel zwischen den Fenstern. 
fin balter Schauder überlief ihn. Er erschrab vor sich selbst. 
Die herkulische Gestalt des beinahe Siebzigjährigen schien 
ebnickt. Die Hände hingen willenlos herab. Die wehen 
diderränder gaben dem trübumflorten BSlick einen weiber- 
daften Ausdruck.
	        
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