Heimat· Schollen
Slätter zur Pflege hessischer Art. Geschichte und Heimatkunst
He.s/ 1028
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Jahrgänge kbönnen, soweit noch vorrätig, vom Heimatschollen⸗Derlag nachbezogen werden
5. Jahrqang
Der Grenzsteinꝰ 0 Von Heinrich Boertelmann *.
Der Bürgermeister von Eschenrod hatte seinen Morgen-
raffee eingenommen. Etwas beschwerlich schon fiel ihm das
Aufstehen aus der Sofaecke. Der Sand auf dem blanb-
gescheuerten Boden knieschte, als er zur Stubentür schritt.
Er riß sie weit auf und rief: „Treineben!“
Seine Tochter, ein Mädchen mit breiten Hüften und hoch-
gewachsen, kam aufgeschürzt und hemdärmelig herbei.
„Seid Ihr fertig?“
Der Alte nickte, trat ans offene Fenster und überschaute
orüsfend den großen Garten und die Wiesentiefen dahinter.
„Die verdammten Gänse sind schon wieder in der Breite.
Karo, pack siel“ —
Ein heller Pfiff ertönte. Lautes Gebreisch und Geschnatter
zündete seine Wirkung. Der Bürgermeister schlug das
Fenster zu.
„Der Schneider kommt zur Anzeige. Auf anderer Leute
Wert ist gut Gänse halten! Wir Großen, wir müssen diese
Kleinen ernähren. Das soll anders werden! Recht muß
bleiben, wie bann sonst die Welt bestehn?“ —
Dabei hatte er den dicken Schlüsselbund aus seiner Tasche
geholt und sein Schreibbontor aufgeschlossen. Amständlich
rückte er den alten Ledersessel herbei und ließ sich nieder.
Trineken wischte die Tischplatte ab, hielt plötzlich inne,
und mit den beiden starkben Armen aufgestützt, sagte sie:
„Der Schneider, das ist mal einerl Habt Ihr es noch nicht
gehört? Der will seinen Hof messen lassen.“
„Warum denn?“
Aus Landvolb“, Erzählungen von Heinrich Beetelmann. Heimatschollen-VODerlag.
„Der Grenzstein ist weg. Der Franzjürgen soll zuviel
nne haben. Wenn das rausbommt, wer den Stein über
die Seite gebracht hat, das kann was geben!“ —
Der Bürgermeister war verwundert herumgefahren: „Was
agst du da? 'n Stein über die Seite gebracht! Sollt' man
as glauben? — Das wird ja was geben, paß aufl —
Das wird hart bestraft!“ —
Trineken war fertig. Das Wischtuch in der Hand, trat
ie vor ihren Vater und sagte: „Das ist auch recht so. Wer
das kann, Vater, der ist ein schlechter Hund.“ —
Der starrte das Mädchen mit seinen grauen Augen
chweigend an. Anwillkürlich hatte er sein weißes Haupt
geduckt, als erwarte er einen Schlag.
In dem Augenblicke pochte es. Der Postbote. Sieh,
in Brief aus der nahen Kreisstadt. Das weiße Kad im
lauen Felde verriet seine Herbkunft sogleich.
Die weichen, schon etwas zitterigen Hände entfalteten
nisternd das Papier, während Trineken. mit dem Postboten
cherzend, hinausging.
Atemlos erhob sich der Surgermeister, holte aus der
lauleinenen Hausjacke seine Brille und las. Er zuckte
ujammen. Noch einmal las er. J
Kopfschũttelnd ließ er das Papier aus den Händen
inben und stierte vor sich hin.
Nach einer Weile lehnte er sich zurück. Dabei fiel sein
Slick zufällig in den großen Spiegel zwischen den Fenstern.
fin balter Schauder überlief ihn. Er erschrab vor sich selbst.
Die herkulische Gestalt des beinahe Siebzigjährigen schien
ebnickt. Die Hände hingen willenlos herab. Die wehen
diderränder gaben dem trübumflorten BSlick einen weiber-
daften Ausdruck.