Full text: Heimatschollen 1921-1925 (1. Jahrgang - 5. Jahrgang, 1921-1925)

Tönnchen, welche Bier, Heringe, Salzgurben und dergl. 
enthielten. Über zwei Fässer wurde ein Brekt gelegt, uns 
zum Sitz dienend. In wärmende Tücher gehüllt, unter 
den Füßen Krüge mit heißem Wasser, hofften wir noch am 
selben Abend Jesberg zu erreichen. Doch noch ehe wir 
die Stadt verlassen hatten, gab es schon einen unwillbom— 
menen Aufenthalt. Das BSierfaß war vom Wagen gerollt, 
daß der Spund aufsprang und der edle Gerstensaft teilweise 
in den Schnee floß. Der Knecht Ochs deutete dieses Miß- 
gejchick als schlechtes Omen und prophezeite uns noch viel 
Unheil für die Weiterreise. Doch unbekümmert ob dieser 
schwarzen Vorsehung, saßen wir sehr vergnügt inmitten unserer 
prosaischen Umgebung und erbauten uns an Schillers Ge— 
dichten. Ich mußte meiner Base „Hero und Leander“ 
überhören, wobei sie alle Fremdwörter französisch aussprach 
und dies krotz meines Lachens 
nicht recht lassen bonnte. 
Machdem wir in einigen Ort⸗ 
chaften gerastet hatten, und die 
Krüge des öfteren mit heißem 
Wasser gefüllt waren, erreichten 
wir wohlbehalten Fritzlar, krotz- 
dem der Schnee die Passage 
tellenweise recht erjchwerte. Doch 
iun setzte ein neuer Schneefall 
rin, der bald immer dichter wir— 
elte, bis er jede Aussicht ver⸗ 
perrte. Die Dämmerung war be⸗ 
eits hereingebrochen. Das Vor⸗ 
dringen wurde immer schwieriger, 
ind plötzlich saßen wir gänzlich 
est. Dicht vor uns bonnten vier 
zroße Frachtwagen ebenfalls nicht 
von der Stelle, denn der Wind 
hatte hier den Schnee zu ganz 
bedeutender Höhe zusammenge⸗ 
weht. Es war inzwischen völlig 
dunkel geworden, was unsere 
Lage sehr erschwerte. Die Fuhr⸗ 
eute tobten und fluchten, und 
ich, selbst recht verzagt, hatte 
neine weinende Base zu trösten. 
Schließlich machten sich zwei der 
deute auf den Weg nach der 
Kalbsburg, einem nicht sehr ent⸗ 
ernten Gut, holten dort Schaufeln 
ind schafften den Schnee vor den Kädern fort; dann wurde jeder 
Magen einzeln von sämtlichen Pferden gezogen und unter 
jroßer Anstrengung aus der Schneewehe herausgebracht. 
VDor unser Wägelchen mußten sieben Pferde gespannt werden, 
und drei brachten uns glücklich nach Kerstenhaujen, wo wir 
in einem wenig einladenden Gasthaus übernachten mußten. 
Früh am anderen Morgen wurde die Fahrt fortgesetzt. Unter⸗ 
wegs begegnete uns die Franbkfurter Eilpost, die vom gleichen 
Mißgeschick betroffen, kurz zuvor aus dem Schnee gegraben 
var. Passagiere und Pferde hatten im nächsten Dorfe 
Nachtquartier aufjuchen müssen. Um ein Ahr mittags er— 
ꝛeichten wir endlich das Siel unserer Keise, herzlich empfangen 
oon den um uns besorgten Derwandten. Nach vierzehn— 
tägigem angenehmen Aufenthalt erfolgte die Heimfahrt unter 
günstigen Keiseverhältnissen. 
In meine Lehrzeit fiel auch die Ausführung einiger 
größerer Arbeiten, die innere Deboration des Ständehauses 
und der Synagoge, wobei ich mithelfen durfte. Nach der 
damaligen Vorschrift mußte jeder Baugewerblehrling die 
Sauhandwoerbschule besuchen; denn um Geselle zu werden, 
nußte er die Säulenordnungen gezeichnet haben und in der 
veometrie bewandert sein. 
Trotzdem hatte ich während des Winters noch genügend 
seit, meine Studien auf der Abademie fortzusetzen. Hier 
esuchte ich den Modellierunterricht der Professoren Kuhl 
ind Henschel; Freihandzeichnen und Perspebtive erteilten 
nir die Professoren Zusch und Wolf. Im letzten Jahr 
eichnete ich im Antibensaal nach Gips. Nach lebenden 
Nodellen habe ich erst im Winter 1847/48 in München 
ezeichnet und dann in den fünfziger Jahren als schon ver— 
eirateter Mann auf der Casseler Abademie unter den 
Rofessoren Ludwig Grimm (Bruder von Wilhelm und Jabob 
Hrimm), Müller, Aubel und Brauer. Die gewerbliche 
eichenschule mit Fachunterricht wurde erst Ende der 
jechziger Jahre gegründet. Der 
Besuch der Nkademie hat 
meinem ganzen Schaffen wohl 
etwas Zwitterhaftes gegeben, in⸗ 
dem der dortige Anterricht nicht 
auf das Kunsthandwerb, sondern 
auf die freie Kunst gerichtet war, 
die, ganz im Gegensatz zur debo⸗ 
rativen Malerei, peinliche und 
naturwahre Ausführung forderte. 
Trotzdem ist mir das auf der 
Abademie Erlernte bei vielen 
Arbeiten von großem Vorteil 
gewesen. 
Während meiner Lehrzeit 
lernte ich auf der Abademie 
einen jungen Göttinger, August 
Körber, bennen; wir wurden und 
blieben treue Freunde bis zu 
seinem frühen Tode. Körber 
ührte mich in einen Kreis streb— 
—V— 
ihre Susammenkünfte in einem 
hintersten Hintergebäude auf dem 
Graben hielten. Hier hauste in 
einem schrägen Dachstübchen der 
schöne Porzellanmaler Steinert, 
der an Körperlänge uns alle 
überragte, ein lieber, herziger 
MWensch, der, von der Jugend be— 
rauhutat⸗ über der Prosa des 
debens schwebte. Um zu ihm zu géelangen, mußte man zwei 
unkle Höfchen und eine Hühnerleiter von Treppe passieren. 
In dem bleinen Ausbau des Mansardenfensters stand sein 
Nalpult. Von diesem Fenster hatte man die Aussicht auf 
ie Kückseite des ersten Hinterhauses, welche stets durch die 
erschiedenartigsten Wäschestücke, Koch⸗ und andere Geschirre 
unt geschmückt war, deshalb Steinerts Dachstübchen die 
Sellevue“ genannt wurde. Su beiden Seiten des Fensters 
baren unter Dachschräge Verschläge angebracht, in welchen 
uch Steinerts Freunde einen Teil ihrer dürftigen Garderobe 
ufbewahrten. Die Decke und Wände des sehr niedrigen 
Zaumes hatten wir in lustigster Weise bemalt, überwiegend 
nit Karikaturen. Das sehr schadhafte Mobiliar reichte oft 
iicht aus; denn abends versammelten sich gewöhnlich viel 
nehr Gäste, als Sitze vorhanden waren. 
Hier auf der Bellevue lernte ich eine Anzahl inter- 
jsanter, mehr oder weniger hegabter Leute bennen, der 
rößte Teil arme Schlucker, früh mit dem Leben bämpfend, 
ber alle voll Jugendmut und Hoffnunqg. ein begehrens— 
Keinhardt Hochapfel: Selbstbildnis
	        
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