Full text: Heimatschollen 1921-1925 (1. Jahrgang - 5. Jahrgang, 1921-1925)

in den Händen des Chefarztes Prof. DOr. O. Koepke. Nach jeinen 
Vorten will die Heilstätte „imit den altbewährten Heilkräften der 
Natur — Licht, Luft und Wasser —, mit einer bräftigen und 
reichlichen Ernährung und einer geregelten Verteilung von börper- 
icher Kuhe und Bewegung die im Kampfe gegen den Tuberkbel- 
hazillus unterlegene Widerstandskraft des Körpers und der Lunge 
vieder zu beleben und zu stärken suchen.“ Dank des Entgegen— 
tommens des Chefarztes war es sehr fesselnd, einmal den 
unscheinbaren Erreger der Krankheit, den Tuberbelbazillus, und 
die von ihm verursachten Serstörungen des Lungengewebes an 
herschiedenen Präparaten bennen zu lernen; zum andern die 
Belämpfung dieser Geißel der Menschheit durch alle erdenklichen 
Mittel und Einrichtungen in möglichster Vollkommenheit zu sehen. 
Seien es nun die Methoden der Antersuchung und Erbennung 
des Grades der Erkrankung, auch durch Köntgenstrahlen, Köntgen- 
aufnahmen und Tuberbulin, seien es die mannigfachen Maßnahmen 
der Heilbehandlung, die in schweren Fällen die Anlage der 
Basbrust zu Hilfe nimmt, seien es Duschen, Kohlensäure- und 
Lichtbãder oder Höhensonnenbestrahlung in den hierzu eingerichteten 
Kãumen des Erdgeschosses, oder sei es die Auswurfbeseitigung: 
aberall drängt sich einem die Erbenntnis auf, daß hier mit den 
besten Waffen und auf die wirbsamste Weise gegen eine schleichende 
Wacht, die am Volkbskörper zehrt, mit gutem Erfolg angekämpft 
wird. Hier verläuft alles bewußt zweck- und planmäßig; größte 
Ordnung und peinlichste Sauberkeit herrschen, wohin man auch 
nur sehen mag, und die Kranken haben an ihrem Teil nicht wenig 
zu diesen Fabtoren der Gesundung beizutragen. Und überaü 
kritt das Bestreben des leitenden Arztes und seiner Helfer hervor, 
auf die strenge Beachtung der Verhaltungsmaßregeln durch die 
Krankben nicht nur während ihres Aufenthaltes in der Heilstätte, 
ondern auch nach ihrer Entlassung in der Familie — und dort ersi 
eecht — hinzuwirben, damit die Gesundung von Dauer sei. 
Unter freundlicher Führung ist noch Gelegenheit gegeben, die 
hellen und luftigen Krankenzimmer mit je 2 bis 4 Betten und den 
Lese- und Schreibsaal mit seinen Bücherschätzen und Schreibtischen 
zu besichtigen. In der Weihnachtszeit, wo die Sehnsucht nach der 
Familie umso stärker an die Seele greift, werden hier mehr Briefe 
als jonst geschrieben, wandern von hier mehr herzliche Grüße als 
zu anderer Seit ins Land hinaus. Wie schreiten durch die langen 
Flure, betreten die Räume ur den Tagesaufenthalt der Kranken 
ind freuen uns der seinen, stimmungsvollen Malereien, mit denen 
zin Melsunger Malermeister sie geschmückt hat, besonders aber 
den Tagesraum, der beiden Bebenntnissen zu ihren Gottesdiensten 
zur Verfügung steht. Da tritt uns überall das Motiv des Kreuzes 
entgegen, daran erinnernd, daß der Mensch ein Kreuzträger ist 
und ewig jein wird. Wir wandeln an der Liegehalle entlang und 
ehen die Erholungsuchenden ihren Gedanken, die wohl zu Hause 
veilen, nachhängen. Kaum wendet sich ein schmales Gesicht nach 
den Fremden um, die in stiller Sonntagsfrühe das Haus besichtigen. 
Im Geiste sieht man den tausendfach verzweigten Wiersschafts 
organismus des modernen Industrie- und Agrarstaates vor sich, 
diese komplizierte Maschinerie, die an wichtigster Stelle mit von 
diesen Männern bedient wird, deren Gesundheit hier oben in 
rischer Waldluft und unter fachärztlicher Behandlung zurück- 
gewonnen werden jsoll, damit sie ihre verantwortungsvollen Posten 
wieder ũübernehmen kbönnen. — Im Speisesaal, dessen Malereien 
den farbenfrohen Blick wohltuend ansprechen, ist den anderthalb 
Hundert Patienten der Heilstätte in einladender Weise der 
Mittagstisch gedeckt. Und aus der Kũche nebenan weht schon ein 
Bratenduft. Mit ihrer Betriebsambeit und ihren vorzüglichen 
naschinellen Einrichtungen ist die große Küche ein Reich für sich. 
Der Küchen- sowie der Wäschereibetrieb wird von bewährten 
Schwestern geleitet. Sum Schluß behren wir in dem Karitäten- 
abinett des Meisters der bosmetischen Künste ein, der zu 
testlichen und feiertäglichen Anlässen den Gesichtern beschnurrbarteker 
Mannsleute den notigen Glanz verleiht, seine Künste dann und 
vann wohl auch mal an einer reizenden Damenfrisur zu beweisen 
Gelegenheit hat oder doch gern hätte. Von den Wänden grüßen 
uns allerlei seltsame Käuze in des Wortes wahrster Bedeutung 
sowie in ũübertragenem Sinne. Da äugt der Waldkbauz nach seiner 
lieben Base, der Ohreule. Und neben der Schleiereule hockt ihr 
bleiner Vetter, das Käuzchen, das nachts sein schauriges „Kiwiti“ 
(Komm mitl) ruft und deswegen auch das Totenkäuzchen heißt. 
Ein ganz Lurioser Gesell in der Gesellschaft der Eulen ist ein 
Hase mit Hörnern. Ob es der ist, vor dem die sieben Schwaben 
jo wacker Keißaus nahmen? Sweifellos hat die gefahrdrohende Nähe 
der brallenbewehrten Nachtraubvögel unseren guten Meister Lampe 
bewogen, sich Hörner anzuschaffen. Diese Wasse gibt ihm tatsächlich 
das Aussehen eines Heldenhasen und uns hinreichenden Grund, 
hn in Subunft nicht mehr zu kränken, indem wir seinen 
ehrenwerten Namen jedem feigen Menschen beilegen; dafür müßte 
ich die Wortbildungslehre von jetzt an eigentlich eines anderen 
Ausdrucks bedienen. Unsere Aufmerksambeit wird noch von 
illerlei bizarren Wachstumsbildungen der Stämme und Wurzeln 
eregt, die als Truhen und ähnliche Behältnisse in den Dienst des 
osmetischen Künstlers gestellt sind. Merbwũrdig ist auch, daß sich 
ie schwer schließende Tür durch energisches Klopfen an der Wand 
eichtlich schließen läßt. Es scheint ein humorvoller Geist in diesem 
Zaume umzugehen. And ich denke, es ist etwas Gutes und 
Zöstliches um den Humor, der ein Lächeln auf mißmutige 
hesichter zu zaubern weiß. 
VOoll von den Eindrücken, die uns so bereitwillig vermittelt 
vurden, wandern wir zu Tal. Der Wald steht heiter und licht, 
ils dränge schon die Inospende Kraft aus den Tiefen. Aber in 
inigen Tagen — wer weiß, da sind die dunkelgrünen Nadeln und 
as zierliche Buchengezweig vielleicht schon von blitzenden Rauh— 
eifkristallen versilbert oder von Schneewuchten belastet. Dann 
vird alles wie in tiefstem Schlafe sein. Denn das deutsche Christ- 
lindchen muß doch aus einem richtigen Winterwald kommen. wenn 
»as Weihnachtsfest vollkommen sem soll. 
AÄber die krumme Brücke Lommen wir zurück zur Stadt. Die 
arbenfrohen Fachwerkbauten der Brũckenstraße sind uns ein Seichen, 
aß in der Stadt der Bartenweßzer der gute aite Bürgergeist noch 
ebt. Durch die weihnachtlichen Straßen mit ihrem ungewohnten 
„onntagsgeschäftsverlehr wandernd, weilen unsere Gedanken noch 
mmer da oben, wo ärztliche Kunst, unterstützt von einem tüchtigen 
schwestern· und Pflegerpersonal, einen erfolgreichen Kampf gegen 
die Tuberbulose führt, diesen schlimmsten Feind unseres Oulbes. 
Ein Wintermorgen⸗ 
Von W. Sunbel, Marburg (Hessen). 
Der Müller hört bebanntlich das Geräusch seiner Mühle erst 
ann, wenn sie plötzlich stille steht. Die Dinge und Menschen, die 
vir alltäglich mit großer Kegelmäßigkeit zur selben Seit treffen, 
sehen“ wir wohl mit unseren Augen, aber es bildet sich nicht 
ꝛdesmal eine Vorstellung davon in unserem Bewußtsein. So bann 
ch genau angeben, wo und zu welcher Minute mir dieser oder 
ener Mensch morgens in der Stadt begegnet, aber ich werde mir 
glüũcklicherweise — nicht immer der Begegnung bewußt, und doch 
hyũrde es mir sofort auffallen, wenn jemand von diesen vielen 
euten eines Tages fehlen wũrde. Manchmal wähle ich einen 
inderen Weg, um nicht immer dieselben Gesichter angucken zu 
nũssen: den pensionierten Offizier, der seine Uniform aufträgt und 
iebenher an die glorreiche Vergangenheit denkt, die gegenwarts- 
rohen Schulkinder, den eiligen Bahnbeamten, den zum Leidwesen 
er Schüler immer noch nicht pensionierten Professor, den mit 
eientalischer Hast dem Briefträger entgegenlaufenden Bankier, 
die Milch und Müllwagenmänner, den Fleijscherlehrling usw. 
Ich brauche nur eine Stunde früher von zu Hause weg zu 
jehen, so begegne ich allen diesen Alltagserscheinungen nicht. 
Meine Bebannten wundern sich dann, daß ich an so einem Winter— 
norgen um 8 AUhr schon im Stadtwald, an der Lahn, auf dem 
Schloßberg oder bei den „Drei Linden“ gewesen bin. — „Sie boönnten 
ich doch wirklich ausschlafen,“ wird mir dann gesagt; „denn wie 
chhnell Sie laufen, brauchten Sie erst viel später als wir andern 
»on zu Hause fortzugehen, und kLämen doch noch rechtzeitig.“ — 
Da ist was Wahres dran, nämlich das Schnellgehen stimmt und, 
die durch manches andre unterscheide ich mich auch durch die 
Zangart von meinen Art-, Seit- und Schichksalsgenossen im allge— 
neinen, besonders aber von dem „zweckmäßigen Meyer“, dessen 
Erdenwandel Hermann Löns folgendermaßen schildert: 
„Er wanderte in jenem gemessenen Gange, der den besonnenen 
Naturbetrachter in der unwissjenschaftlichen Menge sofort benntlich 
nacht, seines Weges.“ 
Schnell durcheile ich die Stadt und erblimme auf vielen Stufen 
en Schloßberg, an dessen Fuße unsere Lahnstadt Marburg noch 
n grauem Frühdämmer liegt. Der Kauch der Schornsteine dringt 
urch den Morgendunst und verliert sich in der höheren blaren 
duft, die große Schwärme brächzender Krähen und hellrufender 
dohlen mit ihren munteren Flugspielen beleben. Die schwarzen 
dögel haben gesellig im Stadtwald genächtigt und verteilen sich 
ꝛht über das Flußtal, um auf Wiesen und Ackern ihre Nahrung 
u suchen: Gewũrme, Nas, Körner und andere Pflanzenstoffe, auch 
Näuse fangen sie und nützen so dem Landwirt, der leider auch 
it noch nicht genügend die Bedeutung der Kaubvyögel als Nage- 
ier⸗Dertilger würdigt. — Hoch oben im Blau schwebt — ein 
Adler im bleinen — unser Mäusebussard ũber den Lahnbergen, 
Ȋhrend von Norden her ein stattlicher Wanderfalk gleich einem 
ejchwingten Pfeil durch die frische Winterluft den Krammetsvögeln 
achjagt, die von den Wehrdaer Bergen herüberwechseln. Wie 
chneidig er hinter den Drosseln her ist; jetzt hat er im Flug die
	        
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