Full text: Heimatschollen 1921-1925 (1. Jahrgang - 5. Jahrgang, 1921-1925)

Alten ist dem neuen Geschlecht entschwunden, ja unversländlich 
geworden, zu viel von dem, was den Vorsahren heilig galt, ver⸗ 
frägt sich nicht mehr mit den Anschauungen und mit dem Suschnitt 
der Neuzeit. Das Alte wurde, als nicht mehr für unsere Swecke 
und in unser hastendes, nervöses Leben passend, einfach als unprabtisch 
und für unser heutiges Volkstum ungeeignet verworfen. 
Iu den alten, bei unseren Vorvätern üblich gewesenen Bräuchen, 
die wohl auch zu den für immer entschwundenen zu rechnen sem 
werden, gehört die Spinnstube. (Sie wird schon deshbalb nicht zu 
neuem Leben erweckt werden bönnen, woeil der Flachsbau bei uns 
fast ganz aufgehört hat. Su memer Kinderzeit stand bei den 
Bauern meiner hessischen Heimat die Spinnstube noch in Blũte. 
Spinnstubel Wie ein Gruß aus lieber entschwundener Seit 
dünkt mich dies Wort, eine Ermnerung an jene Tage, da ich noch 
an Maärchen glaubte, da noch Frau Holle in eigener Person, wenn 
auch ungesehen, umherging. Abends schaute sie heimlich durch die 
Fenster und hatte ihre Freude am Fleiße der Spnerinnen. Aber 
den Faulen verwirrte sie auch den Flachs am Vocken oder ver— 
wandelte gar sie selbst in Katzen. Diese wurden dann in der Kitz- 
Lammer, der Basalthöhle am Wissener, auf welchem Gebirge die 
Göttin ihren Sitz hatte, gefangen gehalten und mußten darin spinnen. 
Wie sich die Frauen heute zum Kaffee besuchen und sich die 
Zeit dabei mit dem Anfertigen moderner, wehr oder minder 
nützlicher Handarbeiten vertreiben, so besuchten sich die Dorffrauen 
meiner Heimat früher mit dem Spinnrade zum Kaffee. Ich habe 
als Kind öfters salch einem „Fest“ beigewohnt, wenn unsere 
Nachbarin. die „Wase Annli“, die Drechslersfrau, ihre Freundinnen 
zur Spinnstube eingeladen hatte. 
Wie deutlich sehe ich sie noch vor mir, die Stube im Nachbar— 
haus mit ihrer rauchgeschwärzten, niedrigen Balbendeckel Die 
Dielen waren zur Ehre des Tages dicht mit weißem Sand bestreut. 
In der Ecke unter den zwei Fenstern zog sich im rechten Winbkel 
die Bank entlang und davor stand der rotgestrichene Tisch mit 
den Fußleisten. Vor dem Tisch aber waren die gleichfalls rotge⸗ 
strichenen Stühle aufgereiht mit den aus Steoh geflochtenen Sitzen 
und mit den hohen, goraden Lehnen. In der anderen Simmereche 
machte sich das mächtige Himmelbett breit, das augenscheinlich nur 
mit Hilsje eines Schemels zu erstegen war. Der Strohsack und 
die Federbetten quollen fast bis unter den Betthimmel empor, auf 
dessen Kand Bibel und Gesangbuch, ab und zu auch 'mal ein 
gefüllter Milchtopf — ein „RKewwes“ — ihren Platz hatten. Klein- 
gewürfelte Baumwollvorhänge, auf Drähte unterhalb des Bett— 
himmels auigezogen, schlossen das Bettinnere von der Außenwelt 
ab. Neben diesem Bettungeheuer aber drückte sich des Hausvaters 
„Sorgestuhl“ mit seiner steifen, geraden Lehne, in einen dunklen 
Kattunbezug gesteckt, an die Wand. Und dieser harte Großvater⸗ 
stuhl war mein Lieblingsplatz bei meinen Besuchen zur Dämmer— 
stunde im Nachbarhaus. Von ihm aus sah ich auch den Gescheh— 
nisjsen in der Spinnstube zu. 
Die geladenen „Wasen“ — Basen, Anrede für Frauen, 
während die Männer mit Vetter angeredet wurden — erschienen 
schon am frühen Nachmittag mit ihren Spinnrädern. Das Gold 
des Flachses war mit breitem. buntseidenem Band am Spinnrocken 
befestigt. Die metallenen Netzetöpfchen, mit deren Wasser während 
des Spinnens die Finger benetzt wurden, glänzten in frisch gescheuerter 
Schöne. Auch die Gaäͤste waren natürlich im Sonntagspuß erschienen. 
Die damalige Frauentracht bestand aus dunklen, schweren Tuch— 
kleidern, in deren Faltenrock vorn der Tuchstoff seines hohen 
Preises wegen durch ein Stück Seug aus anderem Stoff erjsetzt 
var. Der unschöne Sparsambeitsflichen, „Ihwest“ genannt, wurde 
edoch durch die große schwarze auch buntfarbige Wollschürze gut— 
nũtig verdeckt. Als Kopfbedeckung trugen die Frauen ein winziges 
teifgestärktes Mützchen, das „Betzelchen“. auf dem in der Nitte 
»es Kopfes aufgeneckten Sopfänoten. Diese winzige Mütze wurde 
inter dem Kinn durch schwarze Seidenbänder gehalten. Sie wurde 
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geschnittenen bequemen Schuhen, den „Kommoden“. 
Waren die Gäste alle beisammen, dann wurde zunächst der 
Taßffee aufgetragen, der mit viel Susatz aus Rübenmehl, das man 
ius gerösteten und zerstoßenen gelben Wurzeln gewonnen hatte, 
zedickt war. Die Tassen mußten zum Überlaufen gefüllt sein, und 
he Inhalt wurde aus der Untertasse geschlürst, die auf den Spitzen 
cr gespreizten Finger zZum Munde geführt wurde, während die 
Trinkenden in ziemlichem Abstand vom Tische sapßen. Die Wirtm 
atte natürlich ihr Bestes im Kuchenbacken geleistet. Der Tisch 
var besetzt mit großen Schüsseln, die mit Bergen von „Blech— 
uchen“, d. h. Kuchen, die auf großen, flachen Blechen gebacken 
vpurden, beladen waren. AUnter diesen Kuchen waren die Sucker— 
uchen und die hessische Spezialität „Schmantkhuchen“ die bevor- 
ugtesten. Die Kuchen mußten sich durch besondere Höhe des 
Teiges auszeichnen, und es gehörte eine gewisse Kunstfertigkeit 
azu, die einige Finger breiten dicken Stücke ihrer Bestimmung 
uzufũhren. 
Nachdem die leibliche Stärbung beendet war. begann das 
Spinnen. Und nun wurde es erst gemütlich und heimelig in der 
Stube. Füße und Hände setzten sich in Bewegung, die Räder 
chnureten und jurrten, frohliches Schwatzen und Lachen erfüllte 
»en Raum, und im großen Kachelofen brodelte und zischte der 
WVasserbessel. War es noch dazu em kalter Wintertag, an dem der 
Schnee unter den Kädern der Gefahrte und unter den Sohlen 
»er Fußgänger pfiff und kreischte, dann hatte es der Behaglichbeit 
uind Wohligkeit fur mich in meinem alten harten Lehnituhl hinter 
dem Himmelbett bein Endel 
Sur Seit der Dommerung gingen die Gäste für einige Stunden 
ns eigene Heim, um dort nach dem Kechten zu sehen, das Abend- 
»rot füe die Familie herzurichten und auch das Dieh zu versorgen. 
Nach dem Abendbrot vereinigte man sich dann nochmals im Spinn- 
tubenhaus, und dann bamen auch die Ehemänner zu ihrem Kecht, 
da sie jetzt ihre Frauen begleiteten. Es wurde nun Brot und 
„Knackwurst“ aufgetragen, auch Schnaps, doch tat man den Wirten 
nur eben „die Ehre an“, da man ja bereits daheim gegessen hatte. 
Auch das junge Volkß hatte seine Spinnstube. In der ging 
s aber etwas geräuschvoller her als bei den Alten, denn zu den 
ungen Mäadchen gesellten sich abends die Burschen. Da wurden 
Dolbslieder gesungen, auch gar manchmal einer Spinnerin der 
Kocken genommen oder auch einer Streickerin der Strickstock, 
ind beide Gegenstände mußten nach allem Brauch durch emen 
æZuß eingelost werden. Das ging dann nicht ohne Gebreisch und 
Helächter ab, und das Heimgebrachtwerden am Abend war wohl 
nicht das geringste Vergnügen, welches solch eine echte Spinnstube 
»on ehemals mit sich brachte. 
Aber mit der alten Teacht ist deralte Brauch verschwunden. 
Die Spinnräder schlafen den Dornröschenschlaf in Bodenkammern, 
»hne daß ein landesberrliches Gebot wie im Märchen die Ver— 
»rennung der Spindeln angeordnet hätte. Aus diesem tiefen 
Märchenschlaf wird wohl auch niemand wieder die poetischen 
S5pinnstuben mit ihrem Rädersurren zu neuem Leben zu erwecken 
zermögen. 
Vom Büuchertische der Heimat. 
HesjjenMassjauische Bücherei für Schule und Haus. Heraus— 
gegeben von Otto Stäckrath. Heft 126. Heimatschollen-VOer⸗ 
lag A. Bernecker, Melsungen. Preis des einzelnen Heftes 
0.50 Marb. 
Der als Dichter bereits über die Grenzen seiner nassauischen 
Heimat hinaus bebannt gewordene Otto Stückrath bommt hier 
mit einem Anternehmen an die GElffentlichkeit, das wiederum 
weiteste Beachtung verdient. Es handelt sich um nicht mehr und 
nicht weniger als um den Versuch, dem geistigen Erlebnis der 
Heimat auch auf dem Felde der Jugenderziehung und Jugend-⸗ 
bildung Raum zu schaffen. Insbesondere hat ja der Schulunter⸗ 
richt Jahrzehnte lang ein tieferes Eingehen auf Wesen und Wirken 
der Heimat peinlich vermissen lassen, weder der geschichtliche, noch 
der erdbundliche Unterricht haben hier die ihnen zunächst liegenden 
Aufgaben erfüllt, vom Anterricht im Deutschen, in Sprache und 
Dichtung. ganz zu schweigen. Erst neuerdings zeigt sich das 
Bestreben, auch hier mit Keformen vorzugehen, und da kbann es 
nur als abtuell und sehr verdienstlich erscheinen. wenn jemand. der 
nicht nur Schriftsteller, jondern auch Jugenderzieher von Beruf 
jjt, sich daran macht, heimatliche Leblüre für Schule und Haus 
ujammenzustellen. 
Die Hessen-Nassauische Bücherei hat nun tatsächlich Anspruch 
arauf, in jeder Boziehung als mustergültig angesehen zu werden. 
Um mit dem Rußerlichen zu beginnen: sie ist handlich, im Format 
en praktijchen Eefordernijsen angepaßt, startb bartoniert, um auch 
etliche Strapazen auszuhalten, und sehr deutlich auf gutes Popier 
jedruckt. Sahlreiche Bildbeigaben, größtenteils von zeitgenössichen 
Künstlern, regen zur Lebtüre an, und was diese selbst betrifft, so 
imfoßt sie sowohl das geschichtliche, wie auch das volks- und 
andeskundliche, das mundartliche, schöngeistige, naturwissenschaft- 
iche und technische Gebiet, mithin alles. was Heimat heißt. 
Im ersten Heft, „Jammer und bein Ende“, erzählt der Pfarrer 
Nebanus, der im 17. Jahrhundert in Miehlen amtierte, von den 
zuständen des Dreißigsährigen Krieges; die dem noch erhaltenen 
Tagebuch entnommenen Schilderungen sind so anschaulich, daß sie 
ils eine willkommene Ergänzung des Geschichtsunterrichts gelten
	        
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