Full text: Heimatschollen 1921-1925 (1. Jahrgang - 5. Jahrgang, 1921-1925)

lichkeiten und Beschwerden uns helfend und ratend zur Seite 
stand. Aber sie nahm es auch dankbar an, wenn meine 
Hand sie mit Hilfe eines Fadens von ihren wackelnden. 
schmerzenden Zähnen befreite. 
Hatte sie in der Woche einmal weniger Seit gefunden, 
sich bei uns einzustellen, so durfte sie doch am Sonntage nicht 
fehlen. Und wenn die gewohnte Seit gekommen war, dann 
währte es unsern Kindern oft zu lang, und sie eilten hin— 
über, um die gute Dalla zu holen, die sie wie eine Groß- 
mutter innig umfingen und um sie herumhüpfend unsere 
steinerne Freitreppe heraufführten. Und dann begann das 
stürmische Begrüßen. War es Winter, so schritt sie erst zu 
unserm braunen Kachelofen, um ihre Hände zu wärmen, 
bevor sie in ihrer lieben freundlichen Weise uns einen guten 
Abend wünschte. Manchmal bonnte sie die Seit selber nicht 
recht abwarten, namentlich an Sonntagen im Sommer. Sie 
hatte ihr Haus verlassen und schritt langsam auf unsere 
Wohnung zu. Aber immer wieder hemmte sie den Schritt, 
da sie fürchtete, uns noch bei Tische zu überraschen. Geschah 
dies doch hin und wieder, daß sie uns noch beim Abendbrot 
traf, so forderten wir sie auf teilzunehmen. Aber sie danbte 
höflichst, indem sie dazu bemerkte: „Wir haben so lange nicht 
gewartet“, und setzte sich bescheiden abseits. ÜUberhaupt in 
all ihrem Benehmen beobachtete sie den edlen Tabt, der 
das Kechte in jeder Lage zu treffen weiß ohne den täuschenden 
Firnis oberflächlicher sogenannter „Bilduuͤg“. Diese ein— 
fache Frau hätte manche hochgebildete Dame beschämen 
Lönnen. 
Wie manchen MAbend wanderte sie in der Woche zu 
uns, vor allem, wenn der Winter mit seinen Stürmen in 
unsere Berge bam und uns von der übrigen Welt abschloß! 
Sie erschien mit ihrem Spinnrad, und gemütlich schnurete 
das Kädchen, während ich die verschiedensten Geschichten 
und Geschichtchen vorlas, denen sie bis in ihr hohes Alter 
mit gespanntester Aufmerbsamkeit lauschte. War der Flachs, 
die Wolle oder das Werg ausgegangen, dann brachte sie 
ein anderes Arbeitszeug mit, vor allem die Latschensohlen, 
die sie mit unermüdlichem Eifer steppte. Manchmal hatte 
sie auch Arbeiten vor, welche ihren Augen weniger hoffähig 
erschienen, beijpielsweise ziemlich löcherige, flick- und stopf— 
reiche Säcke, dann juchte sie ihr Werk mehr in der Ver— 
borgenheit auszujühren, wobei wir dann gern dieselbe Frage 
an sie richteten, ob sie wieder eine Weihnachtsarbeit vor⸗ 
hätte. Besonders gern hörte sie die Erzählungen von 
Christoph Schmidt, Maria Nathusius, Fries. Mehrere Male 
haben wir auch Onkel Toms Hütte besucht. Dann kam 
sie besonders nahe an den Tisch, um sich ja nur nichts ent— 
gehen zu lassen. 
Wenn nicht vorgelesen wurde, unterhielten wir uns durch 
mancherlei Gespräche. Gern berichtete sie aus alten Seiten 
und brachte aus dem Schatz ihrer Erinnerungen hervor, 
was sie wußte. Sie erzählte von einer teuren Seit, da 
sie die Kartoffeln stundenweit im Tragkorb hätte holen 
müssen, Ach, die gute Frau hat nicht geahnt, daß wie jetzt 
noch ganz andere Dinge erleben. Oft erwähnte sie ihre 
Mutter und wiederholte, was jene vor langen Jahren 
gesprochen. „Dor dem Bäumchen, das einen Schatten gibt, 
muß man sich bücken.“ So sagte meine Mutter, und „die 
Gutmütigkeit ist ein Stück von der Liederlichkeit.. Aus 
ihrem Munde vernahmen wir besondere Kedensarten, die 
uns rar waren: „So dick wie der Süllingswald“, „so gewiß 
wie die Kontribution“. Mit diesem Hinweis auf die unbeug- 
jame Wiederbehr der Steuererhebung wollte sie die untrüg- 
liche Gewißheit einer Sache bebräftigen. Ein Lieblings 
ausdruck von ihr war, wenn sie von dem Ernst des Militär 
dienstes sprach: „Es heißt ja Soldat und nicht Wohlktat“. 
Ihre Wetterregel, für das Heimatdorf Sieß bestimmt, war: 
„Der Regen bommt von Ibe (Iba) 
Und will uns heimtriebe. 
Die Sonne bommt von Eisenach 
Und will uns wieder trocken mach.“ 
Gern verweilte ihr Geist in den Gefilden der Jugend— 
zeit. Eines Abends war sie durch das Hüttengäßchen 
gekommen, welches zwischen Wald und Hecke hindurchführt 
ind in der Dämmerung leicht etwas Schauriges an sich hatte. 
Sie hatte sich etwas verspätet und beschleunigte deshalb ihre 
Schritte, um nicht zu spät zum Dorfe zurückzukehren. Plötz- 
ich hörte sie jemand hinter sich herkommen. Sie schlug ein 
chnelleres Tempo ein, und je mehr sie sich beeilte, desto 
chneller kam das Geräusch hinter ihr her. Die Angst 
heflügelte ihre Schritte, aber endlich bonnte sie nicht weiter 
ind blieb stehen. Und die Gestalt hielt auch inne. Nun 
begann sie wieder zu laufen, und sofort hörte sie auch die 
Tritte hinter sich. Endlich wurde sie gewahr, daß es ihr 
eigener Kock gewesen, der gefroren war und durch das 
Anschlagen an ihren Körper das verdächtige Geräusch ver— 
irsacht hatte. Mit Vorliebe erzählte sie von den Tagen, 
po des Lebens Mai ihr geblüht und die Liebe goldne 
Zukunftsträume im Herzen geweckt hatte. Sie gedachte voll 
Wonne des bunten Bandes, das einst ihr Spinnrad schmückte, 
oon lieber Hand darum geschlungen, die längst im Tode 
eestaret war. Ja, ihren guten Heinrich hat sie früh ver— 
oren; ihr Mann wurde ihr im blühenden Alter entrissen. 
Sie bonnte es dem Aerzt nicht vergessen, der trotz der 
Mahnung den Schwerbranben nicht bejucht hatte und des 
»alb vom Gericht bestraft worden war. Doch was hal)f 
hr das? Der schwere Verlust wurde ihr nicht ersetzt. Sie 
»lieb mit ihren beiden bleinen Mädchen und dem Pflege— 
vchterchen allein zurück und mußte sich mühselig durchs 
Leben schlagen mit der bleinen Pension von 2,25 Mark, 
die sie „Gnade“ nannte, von der sie doch noch etwas zu 
zrübrigen verstand. 
Einmal hatte sie einen außerordentlichen Kirchenzuschuß 
iür ihre Kasse. Ein Mann aus NAustralien, der aus Süß 
tammte, hatte Ausbunst über verschiedene Verhältnisse seiner 
Heimat von mir erbeten. Ich befragte unsere liebe Nach- 
»arin darüber, und es traf sich, daß es ein alter Jugend- 
reund von ihr war. In meiner Antwort berichtete ich übers 
Veltmeer von ihr und übermittelte auch ihre Grüße in Er— 
nnerung an entschwundene Tage der schönen Jugendzeit. 
Und als Antwort und Echo schickte der Australier einen 
elingenden Gruß von 60 Marb. Das war ein großes 
Blück für die gute Dalla. Einen Teil dieses Schatzes ver— 
wvandte sie für ihre Enkel und einen andern bestimmte sie 
für ihre Beerdigung. 
Schon frühzeitig nähte sie ihr Totenhemd, und sie wunderte 
ich, daß nicht jeder schon bei guter Seit für diesen not— 
wendigen Gegenstand sorgte. 
Außer ihr gab es im Dorfe noch eine Familie, welche 
hren Namen Kaabe trug. Leider war diese Namens— 
»erwandtschaft die Ursache, daß ihr ein Teil der Steuer 
enes Namensvetters zugeschoben wurde. DBDiel Gänge und 
Wege hat es ihr nach Kotenburg gebkostet, bis sie von dieser 
anfreiwilligen Steuer befreit wurde. 
Eine andere Angelegenheit hat ihr manche schlaflose 
Nacht bereitet. Das war der Stritzipfel (Streitzipfel), den 
unsere Kinder das Kittergut der Dalla nannten. Es war 
ein bleines Stück Land, ihr Eigentum, aber so ungünstig 
gelegen, daß andere immer darüber hinfuhren und ihre 
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