Full text: Heimatschollen 1921-1925 (1. Jahrgang - 5. Jahrgang, 1921-1925)

man krank. In der Dämmerung holten sie die Toten aus 
den Häusern, schafften sie schnell auf den Friedhof ohne 
Pfarrer und ohne Geleite, versenkten sie in die Gräber, 
und der alte Wurstius sprach ein Daterunser. Niemand 
fühlte sich sicher vor der scheußlichen Krankheit. Selbst den 
Türmer holte sie von seiner hohen Warte. An einem Seil 
schwebte sein Sarg vom Gewölbe herunter, und als die 
Türmersfrau oben plötzlich den Halt verlor, da entglitt 
auch den Männern der Strick, und der Sarg stürzte hin— 
unter auf die Steinplatten und zerbarst, sodaß die Leiche 
herausfiel. Da standen selbst dem alten Wurstius, den noch 
niemand hatte weinen sehen, die Tränen in den Augen. 
In all dem Elend schien nur Eine kbein Grauen zu 
kennen: die alte Königin. Man haͤtte sie nicht gerufen, 
denn man glaubte, ihr diese Last nicht mehr aufbürden zu 
können. Aber sie bam selbst zu dem Mezt, ließ sich von 
ihm alle Verhaltungsmaßregeln sagen und ging furchtlos an 
ihr Werk. Wenn sie ihre Wohnung verließ, legte sie einen 
Kittel an, den einst ihr Vater bei der Arbeit getragen hatte. 
Damit betrat sie die Häuser der 
Kranken. Sie sorgte für die 
Lüftung der dumpfen Simmer, 
bettete die Kranken, reichte ihnen 
Getränkb gegen den Fieberdurst 
und flüssige Nahrung, und oft, 
wenn alles im Hause darnieder- 
lag, bochte sie jelbst. Sie pflegte 
die Leidenden, vor denen den 
eignen gesunden Angehörigen 
graute, mit so viel Liebe und Auf⸗ 
opferung, daß ihr die Verlassenen 
mit Tränen in den Augen dankten. 
And ließ die Krankheit in dem 
einen Hause nach, so erschienen an 
anderen neue Täfelchen, und angst- 
verzerrte Gesichter flehten die 
Königin um Hilfe an, wenn sie, die Fenster mit Blicken 
musternd, vorüberkam. Sie gönnte sich gar beine Kuhe, 
und immer neue Pflichten übernahm sie bereitwillig und 
fragte nicht, ob es ihre Kraft auch erlaube. Dabei war 
sie selbst von allen Gesunden abgetrennt. In ihr eignes 
Haus ließ sie niemand ein. Vor ihrer Tür mußten Bäcker 
und Metzger und Händler die Waren niederstellen, als ob sie 
jelber Leank wäre. Sie schloß sich jelber von den Lebenden aus. 
Endlich, nach schweren, sorgenvollen Monaten schien die 
Seuche zu weichen. Geringer wurde die Sahl der Häuser, 
die die Königin aufsuchte, seltener sah man die Täfelchen, 
und Totgeglaubte betraten wieder die Straße, anfangs von 
den Angstlichen noch scheu gemieden. Alle aber waren des 
Lobes voll über die Königin, die ihnen in ihrer Not furcht- 
los beigestanden hatte. 
And der Tag kam, wo der letzte Kranke von dem Arzt 
für gesund erblärt wurde, und die Königin behrte von ihrem 
letzten Besuche heim. Mühsam erreichte sie ihr Häuschen. 
Mühsam entledigte sie sich des Kittels, in dem man sie 
immer in der schweren Seit gesehen. Ihre Füße trugen sie 
nicht mehr ... Als sie am nächsten Morgen erwachte, 
fühlte sie sich durch den Schlaf nicht gestärkt, wie sie ge— 
dacht hatte, sondern war unfähig, das Bett zu verlassen. 
Dem Atrzt ließ sie sagen, sie sei Leank geworden, aber die 
Blattern habe sie nicht. Als er an ihr Bett trat, fand er 
ihre Beobachtung bestätigt. Er empfahl ihr Kuhe und gute 
Pflege nach all der Anstrengung und sprach ihr Trost zu, 
aber zu Leuten. die nach ihrem Ergehen fragten. äußerte 
er, es werde wohl ihr Ende sein, sie habe sich zuviel zu— 
gemutet. Eine Frau aus der Nachbarschaft, die der Königin 
zie Erhaltung ihres Lebens danbte, pflegte sie. Aber die 
Kräfte der alten Frau nahmen schnell ab. Ganz ruhig lag 
je da, nur die Augen wanderten zuweilen über ihre Sachen 
ingsum in dem Stübchen und blieben meist an den 
Sildern ihrer Eltern haften. Einigemale strich sie mit der 
nageren Hand über die Bettdecke, als ob sie etwas glätten 
volle, und dann lächelte sie zufrieden wie jemand, der eine 
chwere Arbeit gut vollendet hat ... Sie schien nicht mehr 
uf das zu hören, was man ihr sagte. Die Nachricht, daß 
»eute die Soldaten aus dem Felde zurückbämen, machte 
zeinen Eindruck auf sie. Ihre Gedanben waren weit, weit 
iorf. Stundenlang lag sie, ohne sich zu regen ... 
Als der Abend kam, wurde sie unruhig. Unzusammen- 
Ȋngende Worte sprach sie, deren Sinn die Nachbarin nicht 
erstand. „Prinz!“ murmelte sie einmal ... und dann nach 
einiger Seit deutlich: „Die vielen, vielen Vergißmeinnicht!“ 
Da plötzlich schien sie aufzuhorchen. Der Frühlingswind 
trug durch das geöffnete Fenster 
abgerissene Klänge herein. Die 
Nachbarin erbannte das Lied. 
Es war: Ach, wie ist's möglich 
dann ... „Das sind die heim— 
kehrenden Krieger!“ wollte sie 
sagen, da sah sie, wie sich die 
Kranke im Bett hoch aufrichtete. 
„Mein Prinz!“ flüsterte sie und 
starrte gespannt in die Dämmerung. 
Da ging ein Leuchten über ihr 
Gesicht. Sie streckte die Hand 
aus wie zur Bewillkommnung 
und rief: „Endlich, endlich bist du 
gekommen!“ Dann kat sie einen 
tiefen Seufzer und sank tot in die 
Kissen. 
2* 
Als ich vor einigen Jahren den Friedhof meiner Heimat- 
tadt besuchte, ging ich zwischen alten Gräbern über einen 
lachen, mit Gras bewachsenen Hügel hin. Erst im Drüber— 
hinschreiten merkte ich, daß es ein Grab war. Keine Ge— 
enktafel nannte den Namen des Toten, weder Gitter noch 
Stein schloß das Kasenstück ein, aber ein alter Kosen— 
tamm stand darauf, der trug eine Fülle roter Kosen. Ich 
»lieb vor den Blumen stehen und dachte bei mir selbst, für 
velche Liebe wohl einstmals das Überlebende dem Toten 
danben wollte, als es den Rosenstrauch pflanzte. Ich fragte 
»en Totengräber, wer da begraben liege, aber er wußte 
den Namen nicht. „Eine alte Frau ist es gewesen“, sagte 
er, „und man hat sie die Königin genannt ... Die alten 
Leute haben sie sehr gelobt.“ 
— 4 —— 
Dic Wächter Von Th. Endemann. 
In Wolben, feuertrunkben, 
Ist längst der Tag versunben; 
Es bommt die dunkle Nacht. 
Durch schwarzer Wipfel Leben 
Des Windes Schauer weben; 
Ein Stern schon in der Ferne wacht 
— Sieh', einer kommt zum andern! 
Auf ew'gen Bahnen wandern 
Sie hoch am dunkblen Selt. 
Es zieh'n in lichter Wehre 
Herauf des Himmels Heere, 
Und sicher ruht die mũüde Welt. 
9—
	        
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