Full text: Heimatschollen 1921-1925 (1. Jahrgang - 5. Jahrgang, 1921-1925)

vünschte ja nichts mehr als das. And hojffentlich bebam sie 
einmal einen recht braven Mann, bei dem sie es gut hatte. 
Ja, das wünschte er ihr. 
Einige Stunden, nachdem Hans zum letzten Wal von 
dem Postwagen aus über das Städtchen hingeblickt hatte, 
egegnete Gertraude Frau Bindewald. Die alte Frau hätte 
gar zu gern etwas Genaueres über den Grund zu der 
lötzlichen Abreise erfahren, aber sie bonnte nichts aus 
Hertraude herauslocken. Dagegen wußte sie selber eine 
Neuigbeit: „Herr Prinz hat seine sämtlichen Sachen goepackt!“ 
Hertraude stutzte; als sie aber die lauernde Miene der alten 
Frau sah, dachte sie: „Er wird wohl wegen ihrer' Neugier 
Ales verschlossen haben.“ 
Ein paar Tage vergingen, ohne daß Gertraude etwas 
»on Hans hörte. Sie wäre froh gewesen, wenn er ihr gleich 
nach seiner Anbunft geschrieben hätte, aber sie tröstete sich 
damit, daß er nicht lange bleiben werde und sie durch seine 
schnelle Kückbehr überraschen wolle. Daher wartete sie, 
nachdem die erste Woche vorüber war, nicht mehr auf einen 
Brief, sondern auf seine Heimbehr ... 
Eine Woche später stand Gertraude in ihrem niedrigen 
Stübchen. Sie war in Gedanben verloren und bemerbkte 
nicht, daß Frau Bindewald an dem Häuschen vorüberkam 
und dabei alle Fenster absuchte. Als sie die Frau sah, wollte 
sie sich schnell zurückziehen, aber es war zu spät. Frau 
Sindewald winkte ihr zu und näherte sich mit wichtiger 
Miene dem Fenster, dann besann sie sich anders, trat in die 
Haustür und kam nach burzem Klopfen herein. Gertraude 
empfand eine geheime Angst vor dem, was nun bommen 
vürde. Sie hätte am liebsten fliehen mögen, um es nicht 
hören zu müssen. Aber sie bonnte ihm nicht mehr ent- 
einnen. 
Mit wenigen Worten war alles gesagt. Nun wußte sie, 
vpas geschehen war: Hans Prinz hatte die Miete geschickt 
und Frau Bindewald gebeten, ihm sein Gepäck nachzusenden. 
Er kam also nicht wiederl Frau Bindewald hätte gern ihre 
Neugierde befriedigt, aber Gertraude ließ sie völlig im Sweifel 
darüber, wieviel sie wußte, nur ihre tiefe Blässe verriet, daß 
ije sich nur mühsam beherrschte. Kopfschüttelnd verließ Frau 
BSindewald das Haus. 
Gertraude war wie erstarrt stehen geblieben, als sich die 
Tür geschlossen hatte. Aber ehe sie sich noch Kechenschaft 
geben konnte über das, was geschehen war, klopfte es schon 
vpieder, und herein huschte die Freundin Kebebba Keichwein. 
Sie bestätigte die Reuigkeit, die Frau Bindewald gebracht 
hatte. Herr Stammler hatte heute morgen zu ihrem Ver— 
ehrer und den anderen Herren im Geschäft gesagt: „Wir 
müssen uns eine Seitlang behelfen, bis ich einen jungen 
Mann gefunden habe. Herr Prinz Lommt nicht wieder.“ 
Kebebba sah, welch schrecklichen Eindruck ihre Botschaft 
machte, obwohl Gertraude sich bemühte, ihre Erregung zu 
erbergen. Sie tröstete die Freundin: Vielleicht jei noch 
nücht aĩles verloren, vielleicht jchreibe Hans doch noch; aber 
wenn er es wirblich nicht tun sollte, so müsse sie denken, er 
habe ihre Liebe nicht verdient und müsse ihn zu vergessen 
uchen. Sie selbst habe auch ihre Erfahrungen gemacht, und 
sie habe doch den Kopf nicht hängen lassen ... 
Nachdem Kebebba gegangen war, stand Gertraude einen 
Augenblick ganz stille da. Wie träumend sah sie sich in der 
Stube um, dann fuhr sie sich mit der Hand nach der Stirn 
vie in langsamer Selbstbesinnung. Da löste sich die Spannung, 
die auf ihr gelegen hatte, ein tiefer Seufzer hob ihre Brust, 
dann warf sie sich auf das Sofa und weinte verzweifelt. 
Als ihr Dater nach einer Stunde aus der Werbkstätte 
n die Stube bam, erschrak er bis ins Innerste: alle Kraft, 
ille Selbstbehereschung war von ihr gewichen. Ganz ihrem 
Schmerz hingegeben, lag sie da. Erst nach vielen Bitten 
ind Ermahnungen ihres Vaters richtete sie sich auf. Da 
lickte er in ein von Gram verstörtes Gesicht. 
Schwere Tage folgten für Meister Volkmar, Tage, wie 
r sie nicht mehr gesehen hatte seit der Krankheit, die dem 
Tod seiner Frau vorausgegangen war. Gertraude wandelte 
mher wie im Traum. Ihr VDater wollte, daß sie einige 
Tage das Bett hüten solle, bis sie sich beruhigt hätte, aber 
ie jolgte ihm nicht. Sie bochte und tat alle übrige Arbeit 
m Haus wie bisher. Das war das einzige Seichen, daß 
hr nicht alles Bewußtsein verloren gegangen war. Sonst 
chien sie ihee Umgebung und die Gegenwart ihres VDaters 
vͤllig vergessen zu haben. So starr und leer war ihr Blick, 
ind so unbewußt waren all ihre Bewegungen. Die Köte 
— 
lötzlich gealtert aus. Voll Angst dachte Meister Volkmar 
daran, wie seine Frau bei dem Tod ihres ersten Kindes in 
inem Zustand war, der für ihren Verstand fürchten ließ, 
ind er beobachtete mit stillem Gram das unheimlich ernste, 
laglose Wesen seiner Tochter. Er ging nicht in die Werk⸗ 
ätte, um sie nicht allein lassen zu müssen; er fürchtete, sie 
onne sich in ihrem Schmerz ein Leid antun. In der ersten 
sacht lauschte er auf ihre Atemzüge, und wenn er einmal 
laubte: Jetzt schläft siel wurde er immer wieder durch einen 
Zeufzer oder eine Bewegung enttäuscht. Schlaflos verbrachte 
ie die ganze Nacht. 
Als ihr Dater sie am Morgen betrachtete, sah er zu 
einem Entsetzen, daß ihr Haar von grauen Fäden durch— 
ogen war, aber er unterdrückte seinen Jammer, um sie nicht 
u erschrecken. Er beobachtete sie, während sie sich kämmte. 
Sie schien die Deränderung, die mit ihr vorgegangen war, 
nicht zu bemerken. In derselben Gefühlsstarre wie der erste 
Tag verlief auch der zweite. And wieder folgte eine Nacht 
ast ohne Schlaf. 
Als Gertraude am dritten Tag morgens mit ihrem VDater 
zie Stube betrat, stieß sie einen leichten Schrei aus: der 
Zanarienvogel lag tot im Käfig. Sie hatte ihn zu füttern 
ergessen. Da war ihr, als erwache sie aus einem Traum. 
Alles um sich hatte sie vergessen, nur ihr Schmerz hatte sie 
eschäftigt. Sie klagte sich an, den Tod des Vögelchens 
erschuldet zu haben. Sie fragte sich, ob sie nicht auch den 
dater vernachlässigt habe und sah zum ersten Male, wie Lummer- 
‚oll und gealtert sein Gesicht war. Da schlang sie die Arme 
m seinen Hals und weinte an seiner Schulter, bis ihr ganz 
eicht ums Herz wurde. And als sie sich satt geweint hatte 
ind zum ersten Mal wieder durch das Fenster den blauen 
himmel, die weißen Wolken und den Sonnenschein sah, da 
mospte wieder ganz leise in ihrem Herzen die Hoffnung, 
aß doch nicht alles vorüber sei, daß er doch noch wieder- 
ommen könne ... vielleicht bald ... vielleicht jppäter ... wenn 
sie nur den Glauben nicht verliere ... ESchluß jolgt.) 
Mutter 
Aus den „Mutterliedern“ von Olga Stückrath-Stawitz. 
Gewiß, ich weiß, daß du die Kinder liebst 
Und deiner Seele Tiefstes ihnen gibst! 
Und doch, so oft die kleinen zagen Herzen 
Mir blagend bringen all ihr Kinderleiden, 
züllt es mit wehmutsvollen Schmerzen 
Ind banger Ehrfurcht meinen Sinn, 
das AUnverrückbare, daß von uns Beiden 
doch ich allein die Mutter bin!
	        
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