Full text: Heimatschollen 1921-1925 (1. Jahrgang - 5. Jahrgang, 1921-1925)

Hilflosigkeit und Not lassen? Er malte sich die Not ganz 
besonders schwarz aus, um sein Gewissen zu beruhigen. Und 
wenn es ihnen wirblich gut ging, sollte er auf seine Zubunft 
verzichten? Nein, nein! Das mußte Gertraude auch ein— 
sehen! Nur auf einmal alles zu erfahren, das war zu 
schwer für sie. Sie bonnte so grenzenlos glücklich, so 
überschwenglich in der Freude sein, sie war vielleicht ebenso 
im Schmerz. Wer wußte, wie sie es verwinden würde .... 
Er fürchtete sich vor der Derantwortung. Aufgeregt rannte 
er wieder hin und her. Aber was sollte er tun? Ihr zu— 
liebe auf seine Subunft verzichten, das ging doch nicht, nein, 
das ging nicht! „Ach“, sagte er, um sich Mut zu machen, 
„an Liebesbummer stirbt man nicht. sonst lebte ich auch nicht 
mehr.“ 
Dann machte er sich daran, seine wenigen Sachen 
zu packen, und ging möglichst lautlos zu Werbk, damit seine 
Hausleute nichts merkten und schrieb an Stammler einen 
Srief, in dem er um einen Urlaub bat. Den Brief wollte 
er Frau Bindewald geben; sie sollte ihn am nächsten Vor— 
mittag besorgen, wenn er schon unterwegs war. Das 
Gopäck ließ er zunächst noch da, man bonnte ja immer noch 
nicht wissen . .. Wenn er es brauchte, genügten ein paar 
Zeilen, und es wurde ihm nachgeschickt. Und Gertraude 
wollte er dann einen recht lieben, herzlichen Brief schreiben, 
und sie würde schon verstehen und verzeihen ... 
Eine halbe Stunde später ging er in der Dunkelheit 
über den Kirchplatz. Er kam zu ungewöhnlicher Seit und 
Lonnte nicht darauf rechnen, daß Gertraude ihn wie sonst 
an dem Schritt erbannte, als er an ihren niedrigen Fenstern 
vorũüberkam. Daher pfiff er zweimal kurz: „Gertraud guck!“ 
und wartete unter dem Turm, ob sich die Haustüre öffnen 
werde. Aber Gertraude erschien nicht. Als er sah, daß 
sein Warten vergeblich war, ging er denselben Weg zurück, 
pfiff, dicht vor ihren Fenstern vorüberschreitend: „Gertraud 
guck!“ und fügte gleich mahnend hinzu: „Kommst du nicht, 
— 
Haustür. Sie sah Hans im Schatten der Kirche auf- und 
abgehen und eilte auf ihn zu. „Du bist so früh heute 
abend!“ sagte sie verwundert, als sie ihm die Hand reichte 
Da merbte sie, daß er mit der Antwort zögerte, und plötz 
lich hatte sie, sie wußte nicht wie, die beklemmende Gewiß 
heit: nun wird er sagen: „Morgen muß ich verreisen.“ Das 
Herz stand ihr still. Mit schmerzender Ungeduld, aber ohne 
ein Wort sagen zu bönnen, wartete sie, bis es zögernd von 
—D 
reijen.“ Da lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter und 
weinte. 
Er war betroffen, daß sie die Nachricht, die so harm⸗ 
los klang, mit solchem Schmerz aufnahm und fühlte sich 
in seinem Vorhaben bestärkt, ihr nicht alles auf einmal zu 
jagen. Er beruhigte sie mit freundlichen Worten und erzählte 
ihr, daß er die Nachricht von dem Tode seines früheren 
Peinzipals erhalten habe und von den beiden verlassenen 
Frauen gebeten worden sei, ihnen bei der Ordnung ihrer 
Derhältnisse beizustehen. Das bönne er doch nicht ablehnen, 
und so werde er morgen für einige Tage, genau wisse er 
noch nicht, für wie viele, verreisen. Ihr war wieder leichter 
ums Herz. Ohne Argwohn hörte sie ihm zu, und sie 
empfand Mitleid mit den Frauen, die sich so gar nicht in 
die neue Lage zu finden wußten. Hans betonte besonders 
nachdrücklich die Möglichkeit, daß der Keichtum seines 
Peinzipals vielleicht nicht so groß gewesen sei, wie man 
geglaubt hatte; er hoffte, Gertraude werde sich später um 
so eher in das Anvermeidliche schicken. Sie dachte, wie 
viel leichter es doch sei. immer in bescheidenen Derhältnissen 
zu leben, als plötzlich aus Sorglosigkeit und Überfluß in 
Not gestürzt zu werden und fühlte sich so geborgen bei 
hans, daß sie sich vertrauensvoll an ihn lehnte und sagte: 
„Denke nur, ich habe vorhin vorausgefühlt, daß du sagen 
vürdest: Ich muß morgen verreisen. Aber mir war, als 
vürdest du mir für immer genommen. Und da wäre ich am 
iebsten gleich tot gewesen!“ „Siehst du, da hat dein gutes 
herz also doch schlecht prophezeit!“ erwiderte er mit heiterer 
5timme, aber er war froh, daß sie sein Gesicht nicht sehen 
sonnte.... Gertraude drängte nun jelber zum Abschied- 
iehmen, da ihr Dater glaubte, sie sei nur für kurze Seit 
n die Nachbarschaft gegangen. Für Hans war es eine 
Erleichterung, so schnell davon zu Lommen, und er versprach 
hr zu schreiben, wenn sich sein Aufenthalt in Thüringen 
änger hinausziehen sollte. Ein letztes Mal reichte sie ihm 
)en Mund zum Kuß, und er erwiderte Kuß und Hände— 
ruck ... aber ihm war erbärmlich dabei zu Mute. 
Als Gertraude nach Hause kam, begann der Kanarien— 
ogel, durch ihr Eintreten aufgeweckt, zu singen. Ihr VDater 
var nicht in der Stube. Sie trat an den Käfig und fragte 
chmeichelnd: „Wer liebt mich?“ Aber der Vogel antwortete 
uücht wie sonst mit zärtlichem Piepsen: „Hans!“ sondern 
olies sein Gefieder auf und schüttelte sich. „Du garstiger 
Kerl!“ sagte sie und bewegte die Hand nach ihm, als ob 
sie ihn schlagen wolle. Da stob er vom Stängelchen und 
latterte ängstlich am Gitter hin und her. 
Als Hans vom Postwagen aus zum letzten Wal über die 
Bäume hinweg die Giebeldächer, die Kirche und den Turm 
»es Städtchens sah, fühlte er eine leise Kührung in sich 
iufsteigen. Es war dasselbe heimliche Schmerzen wie am 
Abend zuvor, als er zum ersten Wal an die Notwendigbkeit 
er Trennung dachte. And er nahm sich noch einmal vor, 
Hertraude einen recht, recht lieben Brief zu schreiben, sie 
im Verzeihung zu bitten, daß er ihr wehtun mußte — 
hne seine Schuld freilich — und dann würde sie schon ver— 
tehen und ... schließlich auch vergessen. Bei dem Gedanken, 
vie wünschenswert es ihm selber sein müsse, daß sie ihn 
echt bald vergesse, wurde ihm unbehaglich zu Mute. Der 
Vechsel kam wirbklich ein bißchen schnell ... 
Je länger die Keise dauerte, um so mehr wandten sich 
eine Gedanken von dem DVergangenen ab dem Kommenden 
zu, und als er endlich am Siele angelangt war, wunderte 
rx sich gar nicht mehr, wie vertraut ihm hier in der thüringi- 
chen Stadt alles war ... gerade, als ob er sie erst gestern 
herlasjen hätte. 
Einige Tage später schrieb er an Herrn Stammler und 
chickte Frau Bindewald die Miete. Da wurde er ein paar 
Minuten lang nachdenkblich. Merbwürdig, wie weit das schon 
urückzuliegen schien! Ja, den Brief an Gertraude mußte 
x noch schreiben und wollte er noch schreiben. Aber jetzt, 
vo er so in den Geschäften steckte, ging das nicht. Kein 
erzliches Wort hätte er zurecht gebracht, dazu bedurfte er 
der Sammlung. Vielleicht nächsten Sonntag! ... 
Ein Monat war vergangen. Wenn Hans Prinz nun 
elegentlich an Gertraude dachte, wußte er schon nicht mehr 
echt, ob er noch schreiben sollte. Gleich hätte er es tun 
nüssen, ja, das wäre richtig gewesen, aber jetzt, nach so 
angem Schweigen ... da war es schon besser, gar nicht 
nehr an die Sache zu rühren. Gertraude hatte das Nötige 
icherlich schon von Frau Bindewald erfahren, das übrige, 
eine spätere Derheiratung, bonnte sie sich leicht denkben. 
vielleicht hatte sie sich schon mit allem abgefunden. Er
	        
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