Full text: Heimatschollen 1921-1925 (1. Jahrgang - 5. Jahrgang, 1921-1925)

Gemünztes 
Achtet auf eure Mundart! 
Das Anglück unseres Daterlandes und die schweren Nöte 
der Seit verengen uns den Blick. Waren wir vor dem 
Kriege gewohnt, erhobenen Hauptes über Länder und Meere 
zu schauen, wo überall deutsche Macht und deutsche Kulkur 
an erster Stelle sich geltend machten, so wenden wir uns jetzt 
gern vom Ausland ab, ja selbst von den weiteren Gauen 
des deutschen Daterlandes, wo politische Verblendung und 
oergiftender Klassenhaß alle Bande frommer Scheu— zu 
zerreißen drohen, und beschränken den Blick auf unsere 
nächsten Lebensgemeinschaften. Das kraute Wort Heimat, 
das vor dem Kriege gegenüber dem machtvollen Keichs— 
begriff etwas in den Hintergrund zu treten schien, es beherrscht 
jetzt in stärkerem Grade unser Sinnen und Denken. Aeberall 
regen sich Heimatkunde und heimatliche Vollsforschung und 
beweisen, daß wir in unserm Anglück Einbehr halten bei uns 
selbst. Von draußen haben wir nichts mehr zu hoffen, um 
so mehr suchen wir uns von innen heraus zu krösten und 
zu bereichern. 
Su den Besonderheiten der Heimat gehört vor allem 
ihre Mundart, und von jeher nimmt in der Heimatwissen- 
schaft auch der Dialekt seinen berechtigten Platz ein. Die 
angestammte Mundart, die Sprache der Väter, auch sie bränkelt 
seit langem. Der Enkel spricht schon nicht mehr ganz wie 
der Großvater. Die Schule und die Kirche, das Amt und 
der Marbt, die Seitungen und die Bücher, die Dienst— 
verhältnisse und der ganze Verbehr zwischen Stadt und Land, 
alles das droht unsere heimischen Mundarten immer weoeiter 
einzuengen und hat ihnen bereits mancherlei Sprachgut und 
Koedeweise zugeführt, die ihnen von Hause aus nicht eigen- 
tümlich war. Und wie in manchen Gegenden unseres Hessen- 
—DD 
übrig geblieben ist, so besteht die Gefahr, daß auch die alten 
urwüchsigen Dialebte allmählich verstummen und der allmäch— 
tigen deutschen Schreib und Büchersprache weichen. Da gilt 
es zu retten, was noch zu retten ist! Und wie die verschwin— 
denden oder schon verschwundenen Volbkstrachten wenigstens 
in Heimatmuseen aufbewahrt werden zur bleibenden Er— 
innerung für die Nachwelt und als wichtige Lulturhistorische 
Quelle für die Wissenschaft, so hat man auch begonnen, die 
Bejonderheiten der täglichen Sprache wenigstens schriftlich 
festzuhalten und zu sammeln. In Warburg ist ein solches 
Dialektmusjeum im Entstehen: seit neun Jahren werden dort 
aus der ganzen Provinz mundartliche Schätze geborgen, die 
zu einem großen Hessen-NMassauischen Wörterbuch führen 
sollen. Aeberall zwischen Habichtswald und Taunus, zwischen 
Khön und Westerwald sind dialebtfreudige Sammler am 
Werk und schicken jahraus jahrein Hunderte von Setteln 
nach Marburg, auf denen die alten vertrauten, bodenständigen 
und echten Dialebtwörter verzeichnet sind. Und wenn einmal 
nach einem oder zwei Jahrhunderten durch die sich ständig 
ausbreitende „Sildung“ und den immer weiter um sich greifenden 
Sieg der Schriftsprache die alten orts- und landesüblichen 
Mundarten ganz werden erdrückt sein, dann sollen sie durch 
das Marburger Wörterarchiv wenigstens in Heimatforschung 
Sprachwissenschaft fortleben als wertvolle Seugen ihrer 
Zeit. 
Auch in der Schwalm hat man dem Dialebt, der so 
oiele auffallende Besonderheiten aufweist, längst sorgsame 
Aufmerksambeit geschenkt. ˖ Hier blüht die mundartliche 
Dichtung, hier hat die gelehrte Forschung wiederholt ein— 
— 
Ufes Gold. 
ienten Mitherausgeber diesjer „Heimat-Schollen“ verkbnüpft. 
Kreizschwerneng“ und „Jonber Hoose“ sind vielgelesene 
Dichtungen in Schwälmer Mundart, und wer mit dieser sich 
isher wissenschaftlich beschäftigt hat, der fand in Herrn 
Kreisschulrat Schwalm den besten Dermittler und den zu— 
erlässigsten Gewährsmann. So hat er auch von Anfang 
in sich für das Marburger Wörterbuch interessiert, und daß 
in diesem die Schwalm besonders gut vöortreten ist, das ist 
in eester Linie sein Verdienst. 
NMber die Sammlung für solch ein Wörterbuch ist noch 
ängst nicht vollständig, und es werden noch Jahre vergehen, 
»is sie den Anspruch auf annähernde Lückenlosigkeit erheben 
tann. Deshalb heißt es weiter sammeln, und um so danbens— 
verter ist es, daß auch in diesen Blättern die Mundart 
hren Platz finden soll. Gleich in dieser zweiten Nummer 
eginnt der Abdruck eines mundartlichen Wörterverzeichnijses, 
as jeder Freund heimatlicher Sprache nachprüfen und nach 
Kräften ergänzen möge. Folgt er den in dem Vorwort 
zegebenen Weisungen, so dient er sowohl der engeren Heimat— 
orschung, wie auch der umfassenden Wissenschaft von der 
eutschen Sprache überhaupt. In dieser steckt ein gutes 
Stück Gejchichte von Land und Leuten, und je größer unsere 
„ammlung wird, um so mehr bestätigt sie den Ausspruch 
schillers: „Die Sprache ist der Spiegel der Nation. Wenn 
vir in diesen Spiegel schauen, so kommt uns ein großes treff 
iches Bild von uns selbst daraus entgegen“. Das bann 
ielleicht später einmal durch einige Schwälmer Proben an 
iesjer Stelle weiter ausgeführt werden. Für heute heiße es 
uur: helft! sammelt! ein jeder an seinem Platzel Liebe zur 
hHeimat ist auch Liebe zur Mundart. And auch für die 
Schwalm gilt Goethes Wort: „Jede Provinz liebt ihren 
Dialekt, denn er ist doch eigentlich das Element, in welchem 
die Seele ihren Atem schöpft“. 
Marburg. Prof. Dr. Ferd. Wrede. 
Aus dem Worftschatz der Heimat. 
Die Schwälmer Mundart, von der nachstehend eine Keihe von 
Ausdrücken gebracht werden soll, ist ein Sweig der hochdeutschen 
essischen Mundarten. Nicht etwa haben wir in ihr „verdorbenes 
)ochdeutsch‘ vor uns, sondern sie ist mindestens so alt als jenes, 
igentlich älter und nicht etwa minderwertig, wie dieser oder jener 
vähnt. Was Kraft und derbe Bildhaftigkeit des Ausdrucks und 
Mannigfaltigkeit der Konjugationsformen anbelangt, ist sie sogar 
hrer großen Schwester, dem Hochdeutsch, überlegen, dazu viel 
olgerichtiger und — bequemer. Die Schwälmer Mundart bewahrt 
iußerdem noch eine Keihe Wörter mitteldeutschen Sprachgutes auf, 
ie der hochdeutschen Sprache längst abhanden gebommen sind. 
Vie auf Bergeshöhe noch heute manches Pflänzchen eine Sufluchts- 
tätte gefunden hat, das im Tale längst der raubgierigen Hand 
zedanbenloJer Menschen zum Opfer gefallen ist, so blüht dieser oder 
ener alte Ausdruck im stillen Winbel der Mundart unserer Heimat 
ort. Gott gebe, noch recht, recht lange! 
Es braucht sich ihres Gebrauchs demnach niemand zu schämen, 
m Gegenteil! Leéeider übt die Schule und üben insbesondere die 
zeitverhältnisse, die auch an die Stelle der alten beenfesten hessischen 
Bauernschemel den zimperlichen städtischen Vohrstuhl gesetzt haben, 
inen zerstörenden Einfluß auf sie aus, weil beide statt der alten 
ieben landläufigen Ausdrücke buchmäßige gebrauchen. Wer sagt 
»eute noch Häd oder kllerhäd zum Dater und Großvaäter oder 
chnärrch (Suthers Sdmur) zur Schwiegertochter? 
Was hier von der Schwälmer Mundart gesagt ist, das gilt in 
gleicher Weise von allen hessischen Mundarten. 
Wir wollen durch unsere Susammenstellung diesem Sersetzungs- 
»rozeß steuern helfen, zugleich aber eine Vorarbeit zu dem großen 
ejsischen Mundartenwerbe liefern, das Herr Prof. Wrede mit 
iinem Stabe tüchtiger und begeisterter Mitarbeiter 1927 zur 
fünfhundertjahrfeier der Universikät Marburg dem Hessenstamme
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.