Full text: Heimatschollen 1921-1925 (1. Jahrgang - 5. Jahrgang, 1921-1925)

bei dem ich auch Kost und Logis bebam, gestellt wurde, so 
bonnte es doch unter diesen veränderten Umständen nicht fehlen, 
daß in mir eine größere Selbständigkeit des Charabters zur 
ascheren Ausbildung kam, die vielleicht durch eine sorgsamere 
Leitung in heilsamere Bahnen hätte gelenkt werden bönnen. 
Denn wenn ich in Cassel für einen bescheidenen und fleißigen 
Schüler galt, so wurde ich in Kinteln bald für einen solchen 
bekannt, der zu allerhand losen Streichen geneigt sei. 
So weiß ich mich unter anderem zu erinnern, daß ich im 
Oerein mit Gleichgesinnken in einer Nacht bei großem Schnee⸗ 
fall eine enge Straße Kintelns auf beiden Seiten durch mächtige 
Schneemauern völlig absperrte. 
Der unausbleibliche Erfolg solcher Streiche war, daß bald 
in Kinteln nichts Derartiges mehr passierte, ohne daß man 
in mir den Arheber vermutete, jselbst dann, wenn ich völlig 
unbeteiligt war und ruhig an meiner Arbeit gesessen hatte. 
Auch allerhand Verdrießlichkeiten mit den Lehrern blieben 
nicht aus. Doch kann ich mit gutem Gewissen sagen, daß 
ich niemals etwas ausgeführt habe, das mir die Mißachtung 
der Menschen zugezogen oder infolge dessen mir nur jemand 
ernstlich gezürnt hätte. Auch bestrebte ich mich stets, in Be— 
ziehung auf Fleiß und Kenntnis unter den ersten der Gymnasial- 
schüler zu sein, was auch meine Seugnisse stets bestätigt haben. 
Meine Aussichten auf ein gutes Maturitätsexamen waren 
hiernach ungetrübt. Aber in dieser Seit war es, wo eine 
bald ins Anwiderstehliche wachsende Neigung zum Soeleben 
in mir entstand. 
Mein Vormund und meine älteren Brüder boten alles 
auf, um mich von dieser Idee abzubringen und mich zu bewegen, 
das Studium der Kechte, wozu man mich bestimmt hatte, 
nicht aufzugeben. Allein je mehr man mir zu beweisen suchte, 
wie unsinnig es sei, ein unruhiges, mühe- und gefahrvolles 
Leben einer gesicherten, ehrenvollen Laufbahn vorzuziehen, 
um so mehr wuchs meine Abneigung vor aller Kechtsgelehrt 
heit, mein Verlangen nach Seefahrten. Die Meinigen gaben 
endlich nach, und man ließ mich, leidlich equipiert und mit 
einigen Empfehlungen versehen, zur Derfolgung meines Swoecks 
die Keise nach Bremen antreten. 
Meinen ersten ODersuch zur See machte ich mit einer Brigg, 
deren Heimathafen in Kapstadt war. Sie war nach San 
Francisco bestimmt, hatte eine Mannschaft von 12 Mann, 
alle gezählt, und war eine feine, scharf gebaute und daher 
— 
in der Kajüte, die ihr Glück im Goldlande versuchen wollten. 
Der Anfang der Keise war nicht günstig, anhaltender heftiger 
westlicher Wind, der sich bald zum Sturm steigerte, hemmte 
unseren Fortgang. Mir, der zuvor nie ein Schiff gesehen hatte, 
war natürlich alles im höchsten Grade ungewohnt und neu, 
doch blieb ich von der Hauptplage jedes Anbefahrenen, der 
Seebrankheit, glücklich befreit. Nach mehrwöchentlichem Kreuzen 
erreichten wir endlich den Atlantischen Ozean, und fort ging 
es nun mit günstiger Gelegenheit unserer Bestimmung zu. 
Don schönem Wetter begünstigt, erreichten wir bald den 
Pasjatwind und kreuzten die Linie.?) 
Doch ich sollte bald auch die Schattenseiten des Secelebens 
lennen lernen. Wir erreichten nämlich die Gegend von Kap 
Horn Mitte Juni, also recht mitten im Winter. Die Kälte 
war entjetzlich. Das ganze Schiff schien aus Krystall gemacht. 
Der Wind war uns immer gerade entgegen und so heftig, 
daß wir meist beigedreht liegen mußten. Es war daher 
Lein Wunder, als der Kapitän eines Sonntags uns sagte, 
daß wir bereits 61 Grad Güdbreite überschritten hätten, alsjo 
bolle 10 Grad südlich von Kav Horn wären. Endlich. nachdem 
Aauafor 
vir uns über zwei Monate in der Kälte herumgetrieben und 
nit der bergehohen See gekbämpft, bebamen wir günstigen 
Vind und gelangten bereits in 12 Tagen wieder in ein 
ommerliches Klima. Ohne eigentliche Geschäfte lief der Kapitän 
doch in Dalparaiso ein, teils um der erschöpften Mannschaft 
ꝛine leine Rast zu gönnen, teils um einige frische Propisionen?) 
inzujchaffen. Dalparaiso war einige Seit vorher durch ein 
Erdbeben heimgesucht und ein großer Teil der Stadt lag 
rioch in Trümmern. Nach achttägigem Aufenthalt verließen 
vir den Hafen und erreichten ohne bemerkenswertes Ereignis 
die Bai von San Francisco, 201 Tage nach unserer Abreise 
»on Bremerhaven. Die Hälfte der Wannschaft deserktierte 
ofort die erste Nacht; um fernerem Desertieren vorzubeugen, 
ielten die Steuerleute mit geladener Büchse Wache, doch 
»alf es nicht, da die Leute von bis an die Sähne bewaffneter 
Nännern von Bord geholt wurden und Widerstand daher 
ergeblich gewesen jsein würde. Da der Kapitän beine Mann- 
chaft bekommen bonnte, an Bord daher nichts zu tun war, 
enutzte ich die Seit, San Francisco und Umgegend mir ein 
venig anzusehen. Eine ausführliche Beschreibung der Stadt, 
hrer Bewohner, und deren unruhigem, vom Leben in einer 
uropäischen Stadt so verschiedenen Treiben würde hier nicht 
im Platze sein, deshalb will ich nur mit wenigen Worten 
meine dortigen Eindrücke schildern. 
San Francisco war damals noch in den ersten Phasen 
einer Entwicklung. Die Stadt war schon groß, bestand aber 
iur aus bleinen hölzernen, zum Teil barackenartigen Häusern; 
die Straßen waren anstatt des Pflasters mit Brettern belegt. 
die Ansicherheit war derart, daß man beinem Mann — 
Kinder und Frauen sah man überhaupt nicht — begegnete, 
er nicht mit Kevolver und Messer bewaffnet war. Die Polizei, 
eren Abwesenheit mir als gutem Deutjschen besonders auffiel, 
chien ihre Tätigkeit darauf zu beschränken, an jedem Morgen 
die Ermordeten auf den Straßen aufheben und auf Karren 
vegfahren zu lassen; auf frischer Tat ergriffene Verbrecher 
aber, namentlich Diebe, wurden auf der Stelle gelyncht. 
Lebensmittel standen in enormem Preije, entsprechend 
»och aber auch der Arbeitslohn, so daß, wer sein schmußziiges 
Hemd wechseln wollte, sich wohl ein neues baufte und das 
ilte wegwarf, weil das Waschen des alten Hamdas so viel 
rostete als ein neues. 
Einen eigentümlichen Eindruck machten die zahlreichen 
zroßen Spielhäuser, in denen ich oft Goldmassen, die ein 
Hermögen repräsentierten, gewinnen und verlieren sah wie 
»ei uns Kupfermünzen. Freilich mußte auch mancher glückliche 
Hewinner auf dem Heimweg seinen Gewinn mit dem Leben 
assen, denn es gab Strolche genug, die auf diesem kürzeren 
Wage die unsicheren Chancen des Glückes vermeiden wollten. 
Im ganzen war ich froh, daß es nach zwei Monaten 
endlich unserm Kapitän gelang, gegen ungeheuer hohe Gage 
Mannschaft zu bekommen. Wir segelten darauf, um Fracht 
u suchen, erst nach San Blas9, dann nach Matanzas. Hier 
hesertierten bereits wieder zwei Matrosen, doch wir segelten, 
hne diejelben zu ergänzen, nach Chapalla, wohin wir beordert 
varen, um eine Ladung Holz einzunehmen nach Europa, 
Falmouth o) vor Order. Muf dieser Keise hatten wir viel zu 
eiden; schon mit unvollzähliger Besatzung abgesegelt, sollten 
vir bald noch mehr geschwächt werden durch den Skorbut, 
on dem nur der Kapitän uͤnd der zweite Steuermann gänzlich 
erschont blieben. Am leidendsten war der Obersteuermann, 
ind wir hatten mehrfach die Hoffnung für sein Leben auf— 
jeaeben. Der Kapitän tat alles, was in jeinen Kräften stand. 
es Vyrraie PRan der Westküste Mexilos. 5) enqlische Stadt am Westeingang
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.