Full text: Heimatschollen 1921-1925 (1. Jahrgang - 5. Jahrgang, 1921-1925)

Sild jofort wieder vor der Seele. „Das bedeutet nichts Gutes“, 
agte meine Aufwartefrau, der ich das „Gesicht“— erzähite. 
VDier Tage darauf blopft es an die Tür des Schulzimmers. 
Draußen steht der Postbote und überreicht mir einen Feldpostbrief. 
Meine Augen suchen den Absender. Ich lese: Major und Kegiments 
ommandeur. Da befällt mich der Schrecken. Die Nachricht, die 
mir wurde, war auch dangch: „Ihr Sohn ist am 80. April bei 
ꝛinem Sturmangriff gegen die feindlichen Stellungen am M. KRenaud 
uinweit Noyons (Frankreich) schwerverwundet im französischen Draht⸗ 
verhau gefallen und bonnte nicht geborgen werden.“ 
Durch diese Mitteilung vom Regiment 129 und besonders durch 
veitere Nachrichten von der Kompagnie erhielt ich Klarheit über 
das nächtliche Gesicht. Als mein Sohn mit seiner Kompagnie 
die stark befestigte Bergstellung genommen, mit dem Resie der 
Mannschaft stundenlang gehalten, aber wegen Munitionsmangel 
und Ausbleiben jeglicher Hilfe den Rückzug befohlen und aus dem 
Sraben über das vom feindlichen Feuer bestrichene Gelände eilte, 
raf ihn ein Schuß in den Rücken. Der Fahnenjunber will ihn 
oerbunden, aber nicht mitgenommen haben. Kettungsvbersuch durch 
eine Patrouille von fünf Wann ijst fehlgeschlagen, nicht einer behete 
zurũck. Da, nach dem Bericht des Fahnenjunbers der Schwer— 
»erwundete beim Verbinden zum Bewußtsein gekommen und beim 
Tragen in ein Granatloch wieder bewußilos geworden, so nehme 
ch an, daß er in der solgenden Nacht, bevor der Tod eintrat, 
ioch einmal zum Bewußtjsein gekommen ist und sich verzweiflungspoli 
nach seinem Vater gesehnt hat. AUnd diese heiße Sehnjucht bewirkte 
bei mir in derselben Stunde das nächtliche Gesicht. S., Sch. 
* 
Su vorstehender Begebenheit sei bemerkt, daß man solche auch 
im Haungrund bennt. Dort heißt es: „Er ist mir virkomme“ (vor⸗ 
gekommen, erschienen) oder „Er hat sich gezeid“ ) (gezeigt) Wenn 
es auch nicht gerade ein solches „Gesicht“ ist, so ist es doch jeden. 
alls eine merbwürdige Tatsache, die ich 1914 eriebte und die in 
nir die Erbenntnis weckte, daß die Fernwirkung seelischer Kräfte 
nicht einfach von der Hand zu weisen und zu verneinen ist. In 
den ersten Obtobertagen 1914 besuchte ich meinen im Kriegsdienst 
an Nierenbeckenentzündung erkrankten Bruder in einer nieder 
rheinijchen Stadt. Ich blieb mehrere Tage und reiste mit der 
guten Hoffnung ab, ihn auf dem Wege der Besserung zu wissen 
An Sterben war bein Gedanke, weder bei den Arzten noch bei 
den Schwestern, am, allerwenigsten bei dem Kranken selbst. Die 
mir zugehenden Nachrichten lauteten hoffnungsvoll. Indem ich so 
von stiller Freude ũber die fortschreitende Genesung meines Bruders 
zrfüllt war, entstand am Morgen des 21. Obtober in der Pause 
ʒwischen der zweiten und dritten Unterrichtsstunde (aljo um 10 Ahr) 
zin Gedicht, „Meine Mutter“ überschrieben. Es brach förmlich 
us meiner Seele hervor und war in wenigen Minuten aufs Papier 
geworfen. Die erste Strophe lautete: „Nun schreibt meine alte 
Mutter — in ihre Hauspostill — die Namen der koten Söhne — 
und klagt nicht und ist stül.“ Ich las das Gedicht einem Kollegen 
vor, dem es gefiel. Nachmittags um zwei brachte mir der Brief— 
träger ein Telegramm in mein Junggesellenstübchen. Ich riß es 
auf, las und bonnte weder denben noch fühlen. Alles wie aus 
gelöscht. Auch Schmerz empfand ich baum; denn der quillt erst 
aach und nach mit all seiner Bitternis auf. Das Telegramm 
ejagte: „Bruder tot sofort Lommen Pfarrer Albers.“ Ich reiste 
ab. Mein, Bruder war am 21. Oktober gegen d Ahr morgens 
Jestorben, losgelöstes Blutgerinnsel von der Gperationsstelle hatte 
Hherzschlag herbeigeführt. Eine Stunde später hatte ich im fernen 
Hessenstädtchen das oben erwähnte Gedicht aufs Papier geworfen. 
Diesem Bruder folgte nach Weihnachten 1914 ein anderer, der 
einen schweren Wunden erlag, sodaß sich das in unerklärlicher 
Veise aus hoffnungsfroher Stimmung geborene schwermũtige Gedicht 
eider als Prophezeiung erwies. R. 
Schnurrpfeijerecien. 
Am Anstand. 
Es war an einem warmen Sonntagabend im Juni, da saß der 
ilte Nuhn nicht weit von dem Verkehrswege, hinter einer dicken 
Suche versteckt, auf dem Anstand, um einen Rehbock zu schießen. 
Auf einmal sieht er schon von weitem etwas auͤf dem Weg sich 
bewegen, unten weiß, oben hellblau, bald hüpfend, bald ehrbar 
schreitend, bald geradegus, bold kreuz und quer über den Weg. 
„Na.“ denkt er, „was ist das?“ Nun hört er auch Gesang dazuü; 
O, du alte Klapperschlange, 
Du hast mir mein Herz gefange, 
Du liegst mir in meinem Sinn, 
Wie die Worscht im Dippe drin! 
Auch in der Schwalm bebannt. 
D, du alte Nachtviole, 
Du hast mir mein Herz gestohle, 
ODu liegst mir in meiner Haut, 
Wie die Worscht im Sauerbraut!“ 
Dann ein anderes: 
„Komm, Schaßz, tanz mit mir, 
Z3wei gute Grosche geb ich die, 
hab auch noch ein Stückchen Worscht bei mie, 
Das schenk' ich dir!“ 
Wie nun das tanzende und singende Etwas näherbommt, tritt 
der alte Nuhn hervor und sagt: „Sag mal, Henuer, biste denn 
wwoergeschnappt oder was fehlt dir?“ 
„O, nee, Herr Ferschter, ech war of dem Probetanz on do 
anz ich mer noch eens unnerwegsl“ 
„Na, wenn alle Bauern so lustige Knechte honn wie dich, Henner, 
ann können sie froh sein,“ sagte der Alte und ging heim; dem 
ie Kehböcke waren all verscheucht, zumal der Tanz und Gesang 
vieder weiterging. Frau Opper. 
Der främde Kärle. 
Daß die Menschen vor 40-50 Jahren noch nicht so gebildet 
varen wie heute, ist selbstverständlich und leicht zu begreifen. Die 
derbehrsmittel und Wege waren noch nicht so eingefühet wie heute. 
ẽEs gab in meiner Heimat noch viele Leute, die noch beine Eisen- 
ahn, gesehen hatten, geschweige denn darin gefahren waren. Wer 
as bedenkt, wird auch meiner lieben, alten Nachbarin folgenden 
dorfall gern verzeihen, der ihr als 17jähriges Mädchen pajsierte. 
vhr Vater war in den siebziger Jahren Gräwe und als Sohn des 
ihlen Gräwen Hans geboren. Unsere Marrillis hatte in ihren 
Jahren weiter nichts gesehn als die Ochsen und Kühe ihres 
daters und ihre Feldgemarkung, die sie durch und durch bannte. 
da ihre Mutter ziemlich früh gestorben war, so war sie dazu 
erufen, im Haushalte das Nötige zu besorgen, was einer guten 
)ausfrau eben zukommt. An einem schönen Frũhlingstage sitzt sie in 
er Stube und schält „Kartuffel“. Es blopft an. Häärrein,“ ruft 
ie in langgezogenem Ton. Ein fein gebleideter Herr tritt ein und 
agt im schönsten Hochdeutsch: „Guten Tagl“ „Gunn Tog,“ er- 
oiderte Marrillis. „Ist denn der Herr Bürgermeister zu Hause?“ 
rug der Herr. „Jös, hä äß derrheème.“ — „Sie sind wohl die 
fräulein Tochter?? — „Mä, ich benns Mäjen.“ — Koönnen Sie 
enn den Herrn Bürgermeister mal rufen?“ —, Jsso.“ — Marrillis 
atte sich bis dahin im Kartoffelschälen nicht beirren lassen und bot 
uch dem Fremden Leinen Stuhl oder sonstige Sitzgelegenheit an. 
die setzte ihre Kartuffelwanne an die Seite, stand auf und ging 
or die Stubentür und rief nach oben: „Vöterr! Vöôterrs“Es 
escholl eine Stimme von oben: „Boß äß dann loos? — „Daãã 
ollte mol rongerkommen,“ rief Maxrrillis. Stimme von oben: 
VDonnerwãätter, ech well doch dän Sehhawwer enmachen. Boß äß 
»ann loos?“ Marrillis mit kräftiger Stimme: „Aß äßen främder 
Rärle do,“ und nimmt dann ihren Platz an der Kartuffelwanne 
vieder ein, der Fremde steht noch wie ehedem. 
Der Alte bommt herunter, macht die Türe auf, reißt mit der 
inken Hand jeine Mütße vom Kopf, wischt sich mit der rechten 
inen Tropfen von der Nase, gibt dem Fremden die Hand, macht 
rine große Verbeugung und sagt: „Guden Tag, Härr Landrat.“ 8. 
Beim Sahnarzt. 
Der Christian hat einen faulen Sahn, der raus muß. Er geht 
zum Sahnarzt, und die schmerzhafte Geschichte ist in zwei bis drei 
Ninuten erledigt. Nun heißt's berappen. Der Sahnarzt fordert 
wei Marb. 
„Swei Marb?“ fragt der Christian ungläubig, „jwei Mark! 
Das is awwer doch n bißchen béel. Schmidts Jöreje derheim, 
der görgelt sich zwei Stunden und nimmt nuxr fuffzig Pjenniq 
Beim Photographen. 
Der Hannjabob bommt zum Photographen und will sich abnehmen 
assen. Der Photograph stellt einen Stuhl auf ein bleines Podium, 
etzt den Hannjabob in Positur und stellt den sonderbaren Apparai 
iuf den erwartungsvollen Alten ein. Da die Sache noch nicht 
jJanz bklappt, muß der Hannjabob mit seinem Stuhl hin- und her— 
ũcken. Dabei bommt ein Stuhlbein dich an den Rand des Podiums. 
In dem Augenblick, da der Photogräph abdrücken will, ist schon 
as Anglück geschehen. Der Stuhl schnappt von der Kante ab, 
ind der Hannjakob purzelt Hals über Kopf au den Boden. 
„Donnerwetter!“ flucht er, „honn ich da gedacht, daß das Dinge 
o 'ne Gewalt hattl“ K. 
Kätjel-⸗Auflösungen aus Ar. 6 der „Heimat ·Schollen“. 
. Spinnrad. 2. Weil er zu viel überhüpft. 3. Der Schnegel (Schnecke).
	        
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