Full text: Heimatschollen 1921-1925 (1. Jahrgang - 5. Jahrgang, 1921-1925)

Wähne auch um's Himmelswillen niemand, er solle durch 
olche Dinge an den Pranger gestellt oder zum Hanswurst 
gemacht werden. Wie sage ich doch gleich in „Ous Eller- 
potersch Eppelbist?“ SG. 5: „Menschen, von denen man 
nichts zu erzählen weiß, die haben umsonst gelebt, 
deren Dasein ist ausgetilgt wie das der Blätter 
im Walde, die der Wind herabholt — zu seiner 
—A 
Es ist dabei ganz selbstredend, daß die Person, die etwa 
dem Schwanb als Modell gedient hat, nicht genannt werden 
darf. Jedoch, ich habe immer gefunden, daß sich gerade 
Menschen, die nicht das Pulver erfunden hatten, über dererlei 
Dinge ärgerten und erregten; die vielen anderen aber lächelten 
meist über ihre kleinen Schwächen — und wer hätte die 
nicht! — die sie gegeißelt sahen, und nahmen so ihren lieben 
Mitmenschen den Wind aus den Segeln. 
Ueber dem Abagrund 0 
Im Herbst sah ich die Heimatberge wieder. Dunble Föhren- 
wälder mit bronzebraunen Buchenwaldsäumen lagen wie herr— 
liche Gewandstücke um die Schultern der Berge, die sich stolz 
reckten und dehnten. Birkenkronen gilbten und leuchteten 
in der Obtobersonne und warfen hellere Tupfen auf den 
wallenden Mantel der Berge. 
Durch kiefe Waldeinsambeit lief eine Straße, als suchte 
sie die zauberische Stille auf, in der die Märchen zu Hause 
sind. Sur Kechten stürzte der Hang steil in ein grünes 
Wiesental hinab, aus dem Schienenstränge heraufblinkten; 
zur Linken stieg er in bunten Sandsteintreppenstufen höher 
und höher hinauf. 
An einer Wendung der Straße tat sich im Berg ein 
Steinbruch auf wie eine klaffende, fleischrote Wunde. Ein 
ausgefahrener Weg führte durch Krüppelholz und Brombeer- 
gesträuch in die Tiefe des Steinbruches. Ockergelbes Grund- 
wasser in ausgebrochenen Vertiefungen spiegelte die mächtigen 
Steinblöcke der hohen Wand und die Wipfel, die über den 
Steinbruchsrand ragten, in mattem Glanze wieder. Ich sah 
empor. Meine Blicke trafen gegen eine Wand berzen- 
gerader Kiefernstämme, bis zur halben Höhe rauh, rissig 
und von stumpfem Dunkelgrün, höher hinauf glatt und hell— 
braun schimmernd. Ein morsches, hier und da schon nieder- 
gebrochenes Geländer aus rohen Kiefernstangen schloß den 
Kand des Steinbruches für beerensuchende Kinder und arme 
Holzweiber ab. Erdstöcke mit langen, entblößten Wurzeln 
hingen wie schwärzliche Kiesenspinnen über der senkbrechten 
Wand. Föhren neigten sich zum Sturz herüber und standen 
vohl schon jahrelang so, den Wurzelboden gelockert und 
herausgerissen. Ein Stamm aber, ein Lerniger, tapferer 
Stamm mit zerschundener Krone neigte sich so tief über den 
Steinbruch, daß jeder Augenblick seinen Sturz in die Tiefe 
erwarten ließ. Nur noch mit einigen starken Wurzeln in 
— 
gerissene Wurzelstümpfe wie hilfeflehende Arme gen Himmel. 
So an das Leben geblammert, hing der Todgeweihte über 
dem Abgrund. And im Schauen tat mir die Seele weh. 
Aeber dem Abgrund hängen — o, welche Schauer des 
Schmerzes mag das erregen! Ueber dem Abgrund hängen, 
wurzellocker und ohne Kettung — o, welch ein schreckliches 
Schicksal jedem Geschöpf unsers Herrgottsl! Ach, und wie 
piele Menschen hängen über dem Abgrund, sehenden Auges, 
jühlenden Herzens — und doch verschließen sie sich der 
Erbenntnis ihrer gefahrvollen Lage. Wurzellocker sind sie 
Und nun ans Werk und wacker gepflügt, du, rühriger 
derleger, ihr, treue Mitarbeiter. Aber auch ihr, liebe Leser. 
sticht nur die Körner mögt ihr auflesen, die unser Pflug 
ius der Hessenerde wieft, sondern trage jeder sein Körnlein 
zinzu und beweise so seinen besten Dank für die mühevolle 
Arbeit des Pflügens auf dem Heimatacker, daß wir uns 
egenjeitig herausbringen aus den Möten der Seit und deren 
folgen, die ein verloren gegangener Krieg und heimtückische 
feinde über uns gebracht haben. 
Wir wollen uns nicht unterbriegen lassen, nein 
nun erst recht nichtl .... 
Und daß dem so werde, dazu wollen wir fleißig in der 
dergangenheit und Gegenwart pflügen, daß die Schollen 
iur so hinter unserm Pfluge herfliegen und immer Neues, 
derzstärkendes an den Tag werfen. 
Das walft? Gottl.... 
Von Heinrich Ruppel. 
vie der Baum über dem Steinbruch, wurzellocker, weil sie 
eine Heimat mehr haben, gar nicht wissen, was Heimat ist, 
ind derer lachen, die in heiligen Liebesgefühlen davon reden. 
Heimat! — was ist Heimat?“ sagte mir ein tatbräftiger, 
chaffensfroher Mann in einem Landstädtchen. „Ich benne 
eine Heimat“, bekannte er, der als Beamtenkind seine 
jsugend in neun, zehn Großstädten verlebt hatte, als sei sein 
)ater ein moderner Nomade gewoesen, doch nicht durch seine 
chuld. Und so war die Jugend dieses Mannes und seiner 
ßeschwister zwischen den vielen Großstädten zerfetzt, zerfasert, 
erstückt. Das Kleinod „Heimat“ hatte Kisse und Sprünge 
ebommen und war für ihn kbein Kleinod mehr. 
VDor dem Weltkrieg maßen wir den Wohlstand eines 
olbes nach seinen „blühenden“ Städten. O Torheit aller 
dorheiten! Konnten wir einen falscheren Maßstab an das 
zlück unseres Volkes legen! Sind nicht die KRiesenstädte 
llejamt wie Steinbrüche und taujende ihrer Bewohner wie 
Bßäume über dem Abgrund? Hängt nicht unser ganzes 
eufsches Voll wurzellocker über dem Abgrund? 
Federzeichnung von J. Schulz.
	        
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