Full text: Heimatschollen 1921-1925 (1. Jahrgang - 5. Jahrgang, 1921-1925)

Karte! Gewiß wird sich mancher unserer Krieger im Hinblick auf 
die vier langen Kriegsjahre ähnlicher Marschleistungen rühmen 
wnnen. Aus unsern zivilen Verhältnissen heraus erscheint uns 
olche Wanderfreude jedenfalls fabelhaft. 
Ein Stück Geld hatte der wandernde Handwerbsbursche wohl 
von zu Hause her in der Tasche — wenigstens erzählt Mahr von 
dem großen Schrecken, den er ausgestanden, als er, von Göttingen 
herauswandernd, nach seinem Gelde griff und es nicht fand, bis 
der Schreck sich in Freude verwandelte, als er das VODermißte im 
Staubmantel entdeckte. Im übrigen wuürde der Vorrat immer 
vpieder dadurch ergänzt, daß der Handwerbksbursch hier und da 
Arbeit annahm. So arbeitete Maͤhr 1*2/, Jahr in Hildesheim, 
ꝛinen Monat in Hannover, etwa 10 Monaté in Preetz zwischen 
Lübeck und Kiel, über/, Jahr in Roesbilde auf der Insel Seeland, 
JMonate in, Kendsburg und nochmals i, Jahr in Preetz; dann 
etwa /. Jahre in Waren in Wecklenburg und schließlich noch 
ürzere Seit in Hannover, Einbeck und Afeld Ferner mußten 
die Gaben, die oer Handwerbsbursch beim Ansprechen an den 
Türen erhielt, die Keijebosten bestreiten helfen. Sum ersten Mal 
ging Mahr in dem Dorfe Friedlos hinter Hersfeld „blopfen“, und 
war beim dortigen Schullehrer, von dem er 3wei Heller erhielt. 
Die Bemerbung Lehrt oft wieder, daß dieser oder jener Ort „ab- 
getaljt· wurde. Als Gaben waren offenbar Eier sehr willkommen, 
die man sich dann in irgend einer Wirtjchaft zubereiten ließ. Im 
Gasthaus scheint man erwartet zu haben, daß der erste Schnaps 
ein Geschenk war, der zweite für die Flasche wurde bezahlt. Sehr 
Jut war man auch daruüber unterrichtei, wo es vom Handwoerk aus 
ür die wandernden Gesellen ein Geschenk gab. In Steinhude 
hetrug das Handwerbsgeschenk für ihn und einen Mitgesellen zu— 
lammen vier gute Groschen. Überhaupt war das „Begrüßen des 
Handwerbs“ ein gern geübter Braͤuch. Mit Sedauern bemerbt 
Mahr in seinem Keisebuche, daß es ihm und jeinem Bruder 
Johannes in Neustrelitz nicht glückke, die Großherzogin zu treffen. 
So entging ihnen das Geschenk, das sie als eine geborene hossische 
Peinzessin allen wandernden Hossen zu reichen pflegte. Freilich 
vird die große Anspruchslosigbeik des wandernden Gesellen das 
Beste dazu getan haben, daß er es nicht nötig hatte, sein Buch 
nit Seufzen über Geldmangel zu füllen. Im geeigneten Moment 
vußte er seine Barschaft auch verschwinden zu lassen. Er gehörte 
zu den Passagieren, die bostenlos zur See fuhren. weil sie bein 
Keisegeld aufzuweisen hatten. 
Gowiß sprach beim wandernden Handwerksburschen der alt⸗ 
deutsche Wandertrieb mit; Die Lust, Sand und Leuté kennen zu 
lernen, die Städte und ihre Merbwürdigkeiten zu sehen. Und 
Mahr ging mit offenen Augen durch die Welt. Sei jeder Stadt 
ãhlt er ihre Hauptsehenswürdigkeiten auf. Er hattie einen schnellen 
Slick für die Eigenart der einzelnen Landschaften, für die Ertrags 
ähigkeit der Acker, die Bauart der Höfe. Aber das Wandeen 
hatte doch vor allen Dingen seine Bedeutung für die Ausbildung 
im eigenen Handwerb. Mahr erzählte, daß er in einem Dorfe 
in der Nähe von Wolfenbüttel einem Weber jseine Barchentweberei 
anders anordnete, wofür dieser sehr dankbar war und ihn gastlich 
ewirtete. So trugen die wandernden Gesellen vorteilhaftere 
Methoden an ihre Arbeitsstätten und hatten Gelegenheit, in der 
Fremde manchen nützlichen Kunstgriff zu lernen. HAus diesem 
Hrunde wurde sicher auch das Wandern von dem Handwerk ge⸗ 
fördert, und es hatte seine Berechtigung, daß erst der Handwerber 
als voll galt, der seine Wanderjahre hiuter sich hatte. 
Wenn so auch das Wandern durchaus nicht Selbstzweck war, 
o entbehrte es doch nicht des romantischen Anstrichs, so wurde 
och auch dem wandernden Handwerkbsburschen all die Freude zu 
eil, die heute unzählige zum Wandern durch Wald und Feld 
pewegte: Das humorvolle Abfinden mit guten und schlechten Her⸗ 
bergen, mit bleinen Zusammenstößen mit den Hoerbergswirten, ge⸗ 
chlossene Freundschaften, unbermutetes Susammentreffen mit Be— 
annten, Regen und Sonnenschein, lachende, angebaute Gefilde 
und öde Heidelandschaften, von solchen Dingen findet sich piel in 
inserm Keijebuch. Einiges davon sei hier wiedergegeben. In der 
herberge in Salzgitter hatte Mahr zwei Läuse aufgesackt. Als 
er die Nacht darauf in Wolfenbütiel übernachtete, da „fanden sie 
die beiden Vögel, indem man hier visitiert wirde Doae gab nun 
einige Scherereien, aber zum Glück fand sich kein weiteres von 
diesen niedlichen Tierchen. In einer anderen Herberge sprang ihm 
eine Maus direlt auf den Mund. Die jchlechteste Herberge traf 
ꝛe in Lübenau an, nicht weit von Bremen. In einem Dorfe der 
hamburger Gegend Lamen er und seine Weggefährten in heftigen 
Zank mit einer Wirtin, die von den Handwoerksburschen verlangte, 
)aß sie auf der Diele blieben. Sum Troßz verließen sie die Wirtjschaft 
und gingen in der Nacht noch zu einem andern Dorf, wo sie nun 
Not hatten. überhaupt noch einen Antarschlupf zu finden. Einen 
»usammenstoß mit dem Wirt hatte Mahr auch auf der dänischen 
injel Seeland in Slagelsee, wo er im großen Posthof eingebehrt 
»ar, um zu übernachten. Hier traf er mit noch oͤrei andern 
eutschen Handwerkbsgesellen zusammen. „Wir vergnügten uns zu— 
immen; denn hier, wenn ein Beutscher den andern trifft, jo macht 
s große Freude. Des Abends felerten wir einem seinen Geburts- 
ig, welcher Essen und Trinken bezahlte. Und jo fingen wir an 
1 singen. Und der Wiert verbot es. So jagten wir: „Die 
)eutschen lassen sich das nicht berbieten.“ Und zum Trotz gingen 
ir um ꝰ Ahr abends noch nach einem andern Quartioer in kleinen 
osthof, wo wir einen besseren Wiet antrafen.“ Die Beschreibung 
on, Hannover schließt Mahr mit den Worten: „Das Aller— 
ier kwürdigste war, daß ich 48 Stunden hier im Kascho gesessen 
egen Schlägerei, wo ich mir das Bürgerrecht erobert, wie man 
n allgemeinen sagt.“ — Manches ungewohnte Bild bot sich dem 
andernden Handwerbsburschen. Wie verschieden war 3. B. die 
andschaft der Lüneburger Heide von den heimatlichen Bergen! 
)ie vereinzelten Häuser erscheinen unserm Freunde wie Räuber— 
ütten. Baß erstaunt aber war er, als er in einer einsjamen Heide⸗ 
irtschaft die Wirtin mit der Tababspfeife im Munde am Feuerherd 
ehen sah, während ihr ängstliches Kind sich an ihrem Rock fest- 
ielt. „Weil ich das sah, machté ich mir auch eine an, wo sie mich 
adrauf ansah und lachte.“ Ja, es hat seinen eigenen Reiz, durch 
emde Gegenden zu ziehen, nicht zu wissen, wo man am Aben 
zin müdes Haupt zur Kuhe legen wird, immer wieder NMeues, 
lngewohntes zu sehen und zu erleben. Aber rätselhaft bleibt die 
eele des Menschen. Neben dem Triebe in die Ferne wohnt die 
iebe zur Heimat und ihren Menschen. Am Abend des ersten 
ages traf Mahr im Guartier jseinen Stiefbruder Adam Koch 
Und da freuten wir uns königlich zusammen, wenn ich auch gleich 
en ersten Tag auf der Reise war.“ Nur auf dringendes Abraten 
nterließ er es später, einen weiten Umweg äber Diepholz zu 
iachen, nur um einen Landsmann Friedrich Post aufzujuchen. Von 
ciel machte er einen Abstecher nach Schleswig, um einen entfernten 
erwandten, den Kammerrat Schlippzu besuchen, der aber in— 
wijchen gestorben war. AUnd als die beiden Brüder Mahr eine 
zeit lang zusammen wandern und arbeiten Lonnten, da war es 
nen offenbar beiden eine große Freude, hatten sie doch anein- 
nder in der Fremde ein Stückchen Heimat. Und als sich Johann 
Adam, der zuletzt noch in Alfeld gearbeitet hatte, entschlossen hatte, 
ie Heimreise anzutreten, da verschrieb er noch seinen Bruder an 
eine Stelle: „Weil mein Bruder kbam, jchliefen wir noch eine 
dacht zusammen, und den folgenden Tag nahmen wir bekrübten 
Abjchied.“ Wir fühlen es deutlich aus den Lurzen Worten heraus: 
uch dem wandernden Handwerksburschen ist das Heimweh bein 
ꝛemdes Gefühl gewesen. 
Das Lesen in alten Schriften gestaltet sich vor allen Dingen 
urch ihre Seitfärbung anziehend. Je unbefangener ein Buch ge⸗ 
hrieben ist, desto mehr triti diese hervor· And wer sollte un— 
fangener schreiben als ein Handͤwerksbursch, der sich selbst jeine 
Vandererlebnisse aufzeichnet! Unwillkürlich stutzt man, wenn man 
est, daß sich in dieser oder jener Stadt eine Sklaperei dieser oder 
mer Landesherrschaft befand — bis man merbkk, daß Sblaverei 
asselbe sein soll wie Garnison. Man fühlt, wie das wilde Jahr 
348 seine Schatten vorauswarf: Der Soldat wurde bald“? al— 
»blave bedauert, bald als Sblavenhalter gehaßl. Sweimal leistete 
ich Mahr das Vergnügen, von Serlin nach Potsdam mit der 
fisenbahn zu fahren. Eben wurden die ersten Eisenbahnen gebaut, 
ind eine solche Fahrt war deshalb noch ein Ereignis. Vier Meilen 
urden in Stunden zurückgelegt! Da stand einem beinahe der 
derstand stilll Von der Insel Seeland nach Fünen setzte er im 
)ampfschiff über. Er verfehlte nicht, sich die ganze Maschinerie 
es Schiffes zu besehen. Von Kenoͤsburg aus besuchte er eine in 
er Nähe liegende Eisenfabrik. „Es ist da eine Dampfmaschine, 
elche alles ktreibt. Dieje Dampfmaschine wird zugleich von dem 
Ren, wo die Eisengießereĩ ist, getrieben, und die Waschine treibt 
nehrere Drehbänke, wo das Eisen gedreht wird, und etliche Schleif⸗ 
eine, wo die Ackerpflugswerbzeuge geschliffen werden, die von 
er Gießereĩ verfertigt sind. Die Maschine ist beinahe gerade so 
ie die auf dem Dampfschiffe. Auch wied alle Det von Schlosser⸗ 
rbeit hier verfertigt. Hunderte von Menschen arbeiten hier.“ 
der Handwerkbsgeselle ahnte nicht, daß er dem Todfeinde seines 
tandes gegenüberstand, daß die Maschinenarbeit erst der Hand⸗ 
rbeit großen Abbruch tun und sie schließlich fast ganz verdrängen 
ürde. Aus der Seit, da Mahr wänderte, findet sich selten ein 
zreitenbacher Kirchenbucheintrag, in dem nicht der Familienvater 
ls Leinweber bezeichnet würde. Heute muß die Mehrzahl der 
tamilienväter, die ihre Familie aus der Landwirtschaft allein nicht 
rnähren können, wenigstens den Sommer über in Westfalen 
rbeiten. Für unsere Dörfer wenigstens waren es bessere Seiten, 
ils der Bursch wandoerte und der Mann seine volle Boschãftigung
	        
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