Full text: Briefe einer Frau an Walther Rathenau

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härtenden Schale der Konfeffionen geriet er zwifchen die zerfebenden Mei 
nungsfpaltungen durch den begriffsbildenden Intellekt, da männlicher Seift 
fich ihm hier felbfit zum ausfchließlichen Hüter fekte. Denn Konfeffion 
mwurzelt in der DBegriffsbindung des freien SGedankens an beftimmte VBor- 
itelungen und Kultusformen. Sie diente dem Zwex, ihn während barbari- 
“her Sahrhunderte vor der völligen Berflüchtung zu fchlißen. Zugleich aber 
auch hinderte fie feine weitere Cntfaltungsfraft und machte ihn zum Mit 
genoflen. des eignen erftarrenden Alterns. 
Die Gefahren der Verflüchtung find heute endgültig und längft vorüber. Dar 
her die zunehmende Bedeutungslofigkeit der Konfefjfionen und das immer 
dringender werdende Verlangen nad) freier, religisfer Selbftentwidlung, dem 
jelbft audy die Konfeffionen Rechnung zu tragen verfuchen. Dody da damit 
der Weg der Selbftverleugnung betreten ift und das Ziel nur durch Aufrs 
föfung des bindenden Grundprinzips zu erreichen wäre, bäumt fi der ortho- 
dore Beharrungswille naturgemäß dagegen auf. Zeit und Zukunft nur fön- 
nen das Werk unaufhaltfjamen Werdens vollenden. 
Xn der Künftigen Univerfalreligion werden alle Wege des Werdens dem 
jreien Seelengedanfen offen ftehen. Sie alle werden aus ihrer umfaffen- 
den Mannigfaltigfeit zu dem einen einigenden Höhenzentrum führen, wo 
nicht Meinung mehr, {ondern die Tat regiert: die Tat der Liebe und fitt- 
lichen Weltvernunft. Denn Seele und Liebe find rein men|chlihe Dinge und 
jomit der allgemein menfchliche Wefensiern und SGipfelpunkt aller wahren 
Religion, 
Aus den beiden Örundfragen nad) dem Urfprung des Lebens und dem des 
Ceidens entfeimt alle Religion feit Urzeit. Die Antwort fuchr vor allem nad 
den Wegen zur Uebermindung des Leidens, So entftand die religisfje Cthik, 
die in der praftifchen ESthif des Intellektes auf {ozialenı Boden ihre reale Bes 
(tätigung feither gefunden hat. 
Beute Ichiden wir ung an, diefe reale Beftätigung im Intellektualbereich der 
Wifenfhaft auch für den metaphyfifchen Gehalt religisfer Seelenlehren der 
Vergangenheit zu fudhen und wir nähern ung durch die phyfiologifch begrünz 
dete moderne Pfychologie bereits mit fidheren Schritten diefem Ziel. 
In Zufunft wird weder die Religion ihre wertvollen Iraditionen zu opfern 
brauchen, noch die Wiffenfchaft ihre experimentellen Methoden verleugnen
	        
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