Full text: Briefe einer Frau an Walther Rathenau

In ihnen fteigt die Weltengottheit der Liebe vom Kreuze der furchtbaren Les 
benswiderfprüche, um fortan in unferer Mitte zu wohnen und über unfern 
ebenstaten ricdhtend zu wachen. Denn Liebe fennt als „Weltenrichter“ nur 
die eine Richtung ing Ewige und Unbegrenzte, die fie allen Lebensdingen 
(henfen will, auch innerhalb der zeitlidhen Begrenzung finnlidher Erjdhet- 
nungen, 
Sm Gemüt unferes Deutfchtums, darin der Idealgeift der germanifchen Welt- 
eppche feinen tiefften irdifdjen Anferpunfkt erreichte und die Kluft aller Zeiten 
zwifchen Sinnen und Seele fid fhloß, vollendet fich der Abfchnitt des intel, 
feftucllen und finnliden Iugendreifens unferer Epoche und der neue Ring 
des Seiftreifens beginnt. In ihm liegt die Idee des fvgenannten „jüngften“ 
Tages befchloffen, deffen Wirklichkeit in der Tatfache der Seelenwiedergeburt 
liegt. Die Neufeele, die heute fi wieder zu regen beginnt mit den Intuiti- 
ongsgewalten der einft am „erfien“ Tage herrfhenden Urfeele, umfdhließt das 
Seligfeitggeheimnig des fommenden „goldenen“ Zeitalters, Noch trennt uns 
eine weite Wegftrede von ihm, jedoch die Periode der Nebergänge i{ft im Anz 
bruch durch die Weltfendung des germanifchen Idealgeiftes, die in den Mäch- 
ten des deutfchen SGemütes ihren Brennpunkt befigt. Von hier aus wird die 
innere Siegesfraft der Güte die Machtherrichaft äußerer SGewalten über 
minden, 
YNırr durch diefe Mächte des Gemüts kann endlich der SGeift des urfprünglichen 
Chriftentums feine wahre, lange vergeblich gefuchte Erfüllung finden. Cr ift 
als‘ SGeift der Liebe eine rein menfcdhliche, allgemeine Kraft und Sache der 
Menichheit, nicht Sache Firchlicher Conventionen, Diefer SGeift i{ft Alter als 
Scolgatha, dort nur wurde ihm das Kreuz errichtet, vom Machtgeifte Roms 
und yharifäifchen Intelleftualismus. 
Beides aber bezwingt die Zeit und das Weltgefeß des neuen Seelenwerdens. 
Das jüngfte germanifdhe Urfeelenreich, das damals auf römifchem Boden er- 
[ofch, erlebt heute das Morgenrot feines „neuen“ Tages im Herzen unferes 
Deut/chtums, 
Doch diefes Deutfchtum ift weit davon entfernt, einem politifhen Pangers 
manismus Borfchub zu leiften, denn in ihm lebt der SGeift eines weltum: 
faffenden Univerfaligsmus und es ift in feinen reifen SGeiftern fich feiner Senz 
dung und Weltftelung Mar bewußt. Sie heben es weit über das politif{che
	        
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