Full text: Briefe einer Frau an Walther Rathenau

Denn diefe Dinge gehörten feither zu den Reichen der Nacht, die für die Sinne 
— nicht für die Seele — im Dunkel des Unbegreiflidhen fliegen; über die eın 
Novalis ung {vo Wunderbares zu fagen hatte, oder Iriftanzauber uns ın 
tönender Sehnfucht zu verftändigen weiß. 
Bier ift dag Reich der Mütter, das Land der Seele, der Urbezirk der Liebe 
und fittliden Weltvernunft, wo alle {Hhöpferifchen Fluten des Dafeing dem 
Dzean der ewigen Weltenliebe entfirömen und durd) das weibliche Mactbe- 
reich Eintritt zum Dafein der Erde gewinnen. Hier ift aller Wurzelboden 
für finnliche und fittlide Wirklichkeit, denn hier ft der Urquell der Lebens: 
befeelung, dur die der Menfch erft zum fühlenden und denkenden Wefen 
wird, oder ftumpf und gedankfenlvos vegitiert, wenn der Zufluß feiner Wer 
‚ensfräfte von hier zu gering. Hier ft fein wefenlofes Iraumland, das unz 
jere Phantafie mit leeren Einbildungen täufcht. Sondern die hier wirklich 
zewonnenen Einbildungen find weit wirffamer, weil wirflichfeitsgeftaltendD, 
als alle Augbildung, auf die wir ung heute fo viel zu gute tun. In Ddiefer 
entfaltet der „Verftand“ feine Fähigkeiten. Aus jener aber entfeimt Der 
„Sinn“, diefe Denkkraft des Herzens, darin alle Befinnung und Sefinnung 
mwurzelt und ung zur Höhe der Befonnenheit und Weisheit führt, wenn wir 
offne Bahn fanden für ihre Entfaltung. Hier nahen wir uns dem Königs: 
thron unferer wahren Menfchenwürde, 
Dem Sinn nur leuchtet das Licht der Tranfzendenz, ohne Ddeffen durchfehei- 
neniden Schimmer alle Dinge der Erde dunkel, kalt, leer, tot find. Sinn weden, 
heißt Seelenblindheit befiegen. Der Sinn ift das Hauptorgan weiblicher 
Sedankenkraft, den unfichtbaren Innern. Wefjenswelten vorwiegend zugewandt. 
Sr durchleuchtet ihre Tiefen mit der plaftifhen Bildkraft der Phantafie, in 
deren Zauber die Wirkung ewiger Gefeglichkeit lebendig ift, wie fie aus dem 
Xhythmus der Perfönlichkeit und aller Künfte uns fo machtvoll feffelt. 
Das wonnevolle Geheimnis, das hier wirkt, ift das der feelifchen Urfprüng- 
(ichfeit, die dem Ziele gilt: den TIrägheitsbann des Stofflidhen zu überwinz 
den; der Aufhebung der Schwerkraft, wie es [hon genannt ward. Io diere 
Sat geglückt, da leben wir in den Befeligungen der Kunft und Liebe, in Den 
Bezauberungen der Seelenmagie, 
Alle Erdenz und Himmelswonnen find das Erzeugnis freiflutender Kraft- 
zmpfindung, die ung im Raufche oder den Cntzücdungen der Begeifterung ges
	        
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