Full text: Briefe einer Frau an Walther Rathenau

in allen feinen ungleichen und vielfältigen Dimenfionen von umfaffender Einz 
heit. Die Mechanik des Intellektes gleicht daneben dem Kunftbau eines von 
Menfhenhand gefügten Haufes. Hier wirft die Macht der Seftaltung von 
außen, dort von innen. 
Dem Seheimnis ihrer beidfeitigen Einheit wenden wir ung zu, wenn wir 
nun den Spuren des großen Eros folgen. Sein Name ward im Kleinbetrieb 
unferer Tage fo vielfach entftellt und mißbraucht, daß wir uns zuerft feiner 
urfprünglidhen Größe erinnern müffen, um feine rechte Spur zu finden. In 
ber Dynamik der Seele ift fie nie zu verfehlen. 
Sobald wir lernten — worauf es heute anfommt — in der natürlichen und 
jozialen Ordnung der Dinge das, wenn auch noch unvolfommene Abbild und 
Sleichnis der ewigen, göttliden Weltordnung zu erkennen, haben wir fie mit 
ücherem Schritt betreten. Von hier aus kann die Seele alle Dimenfionen 
ihrer Entfaltung in ung gewinnen. Sie läßt die Ahnung in ung Feimen von 
ziner ewigen Gerechtigkeit, die über allem Lebendigen herr{cht. Die Ahnung 
zrwächft zur Gewißheit der Erfenntnig vom Sinn diefer Gerechtigkeit, darın 
die Seele fichh bis zu den Stufen der Weisheit erhebt. Bon hier aus aber 
jehen wir, daß über allem die Xiebe waltet, als göttlide Mutter alleg eben: 
den, als Herrin der Welt, als Seele der Seele, Hier endet die Spur des gro; 
Ben Eros. Wir haben ihren Ausgang gefunden für unfer fuchendes Bewußt- 
jein und feine Ausdehnung. Die Dynamik der Seele aber geht ing Unber 
grenzte, wohin ihr zu folgen bedeutungslos wird für den Sinn unferes Xebens 
und darum fhäbdlich für unferen Menfchenfinn. Dod) fie ift es, die uns aud) 
zinft weitere Wege in das Unbegrenzte öffnen wird, wenn die Zeit dafür ges 
ivmmen {ft 
Der Menfch hat Bewußtfein und gewinnt deffen Augdehnungen durch das 
Medium der Seele, Denn die Seele ift Bewußtfein, das in ung Fommt und 
rlifcht, {obald wir wachen oder fchlafen, fobald wir leben oder tot find. 
Doch der Gedankenweg der Intuition, der der Seele offen fteht, ft eng, che 
er fi augdrucsfähig entfalten fonnte durd) den begriffsformenden Sntelleft, 
Daher fommt es, daß die Urgeiftigfeit der Seele voll untrüglicher Snftinkte, 
Ahnungen und Unfagbarkeiten ift, die reicher und tiefer find, als alle Worte, 
mwiflender und gewiffer als alle erlernten Kenntniffe des Verftandes. Diefer 
Urgeiftiafeit entfirömten einft die Seherfräfte ungebrochener Weiblichkeit, und
	        
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