Full text: Briefe einer Frau an Walther Rathenau

Senuß des Stofflihen beeinträchtigen. Sie erfahen darin das Ideal der 
Freiheit und Selbftheftimmung und ergaben fidh zu feiner Gewinnung meift 
fampflos den Sflavenfeffeln der Leidenfchaften und ihrer Zügellofigkett. 
Fine Zeit, die feine Ziele mehr gekannt, fondern nur noch Sefchäfte, fonnte 
wahrlich feine andern Refultate an Perfönlichkeitswerten mehr zeitigen. Diere 
aber beftehen im Cmwigfeitggehalt der Seele. 
Die Fünftige Erziehung wird Feiner ermüdenden Moralpredigten mehr be: 
biirfen und ohne den alten Schredapparat von Sünde und Schuld auskfom- 
men, {obald fie fich ihres Ziele voll bewußt worden: der Befiegung der foff- 
liden Widerftände zu Gunften des SGeiftes. Ihre Tat wird das Wachstum 
unferer Befähigung zu diefem Siege fein. Diefes Wachstum aber wird ges 
üchert durdy die freie Entfaltung der inneren Wefensfräfte, durch die Summe 
der Seele, die wir gewinnen. Daher verfagte fo lange das alte Bildungs- 
ideal, dag dem Intelleft gegolten hatte und mit der Seele zugleich auch die 
Sharakterentfaltung hemmte, dag Zentrum der SGefittung und Sefinnung. 
Seglidher Schulzwed wird in Zukunft nur dann als erreicht gelten, fobald der 
Menfch fähig geworden zur eigentlichen, zielfeßenden Selbftbildung und ihm 
dazu alle Wege gewiefen werden Ionnten, Seither wurden diefe Wege hHäuytg 
mehr verdunfkelt alg erhellt durch Methoden, die ung Ueberdruß an edelften 
Wiflens{hägen bereiteten, weil diefe ung in unverdaulicher Weife als Seiftes- 
nahrung geboten waren von Pedanterie und Amtsgewöhnung., Schule und 
Frziehung galten im wefentlichen dem praktifchen Nukben des männlichen oder 
weiblichen Tagesberufes, und man vergaß darüber „Menfchen“ zu bilden. In 
der Hauptfache erftrebten fie der Entwicklung äußerer Zatfräfte, und die Macht 
der innern Neberwindungskfräfte blieb dem Zufall ihres Gedeihens preisgegeben. 
— Doch auch im Schulbereidh begann fhon Frühlingsluft zu wehen und die 
Keime einer neuen Jugend zu wecden. Sie wird fid bald immer mehr als 
Kind des Geiftes erkennen, deffen Stunde gekommen if zu Ent{hHeidungsfiegen 
über die Materie, und fie wird durdy ihn lernen, wieder freies, frohes Gefchöpf 
der Erde zu fein. Denn das feitherige NMebergewicht der ftofflihen Gewalten 
weicht von nun an dem Nebergewicht der ftetig wachfenden Seelenkräfte, Sie 
aber fennen nur das eine Ziel der Ziele, das fomit auch die Hauptrichtung 
aller fünftigen Erziehung beftimmen wird: Die Aufhebung der Schwerkräfte 
in uns.
	        
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