Full text: Kurhessischer Kalender // Amtlicher Kalender für das Kurfürstenthum Hessen (1836-1845)

Die Stadt wurde, wie Riga, mit Starm ein⸗ 
genommen, und man fuͤhrte dem General Bauer 
ünter der uͤbrigen Beute, auch die gefangene 
Katharina zu. Der Sieger behandelie sie guͤtig, 
und weil er bald bemerkte, daß sie eben so ver⸗ 
staͤndig, als in der Wirthschaft geuͤbt sey, uͤber⸗ 
trug er ihr die Aufsicht uͤber sein Hauswesen. 
Bald darauf sah sie der beruͤhmte russische Fuͤrst 
Menzikoff, ein Guͤnstling Peter's des Großen, 
welcher eben so, wie Katharina, mehrere Jahre 
vorher nicht die geringste Ursache gehabt hatte, 
auf ein großes Gluͤck in der Welt Rechnung zu 
machen, indem er fruͤher als Pastetenbaͤckerjunge 
in der Hauptstadt Rußlands Backwerk oͤffentlich 
zum Verkauf herumzutragen genoͤthigt war. Die⸗ 
fer nahm Katharinen zu sich und uͤbertrug ihr 
ebenfalls die Sorge fuͤr sein Hauswesen. 
Hier blieb sie zwei Jahre. Da traf es fich, 
daß Peter der Große eines Tages bei Menzikoff, 
wie er dieses zuweilen that, speisete. Die Schoͤn⸗ 
heit Katharinens machte den Czaar anfaͤnglich 
blos in soweit auf sie aufmerksam, daß er sich 
in ein Gespraͤch mit ihr einließ. Wie groß aber 
war sein Erstaunen, als er einen ungemein gebil⸗ 
deten Verstand in dem jangen Maͤdchen wahr⸗ 
nahm. Die Artigkeit und ungezwungene Ein⸗ 
fachheit ihres Betragens nahmen ihn so fuͤr sie 
ein, daß er sie von Menzikoff zum Geschenl for⸗ 
derte. Dies durfte jener dem Monarchen nicht 
abschlagen; und so kam Katharina in die Naͤhe 
des groͤßten Mannes seiner Zeit. Hier hatte sie 
nun noch weit mehr Gelegenheit, ihre herrlichen 
Eizenschaften zu entfalten, und so geschah es 
denn, daß der Beherrscher eines sehr groͤßen 
Reiches sich mit der gewesenen Braut eines feind⸗ 
lichen Feldwebels in der Stille trauen ließ. 
Katharina begleitete ihren erhabenen Gemal 
nicht allein auf vielen seiner Reisen, sondern auch 
fast in allen seinen Feldzuͤgen, und erwarb sich 
sein Vertrauen in so hohem Grade, daß er sie 
selbst in wichtigen Staats angelegenheiten zu Rathe 
zog. Auch hatte sie auf sein Herz großen Einfluß. 
Er ließ sich oft in Augenblicken seines ungestuͤmen 
Zornes von ihr in die Schranken der Maͤßigung 
Furückfuͤhren und gestand es offen, wie viel er 
hrer Kugheit, Sanftmuth und einschmeichelnden 
Ueberredungskunst verdanke. 
Das Jahr 1711 war eines der merkwuͤrdigsten 
im Leben Peter's des Großen und hatte auch auf 
Katharinen den bedeutendsten Einfluß. Peter 
—XEVV 
den Tuͤrken an dem Flusse Pruth gaͤnzlich einge⸗ 
schlossen. Er, der Schoͤpfer der Groͤße und 
Macht seines Volkes, welches man bisher nur 
zu den Barbaren gezaͤhlt hatte, sah alle seine 
Schoͤpfungen gleichsam vernichtet und befarnd sich 
in der augenscheinlichsten Gefahr, von den Tuͤrken 
gefangen zu werden. Der Mangel in seiner Armee 
war auf den hoͤchsten Grad gestiegen; man konnte 
keine Lebensmittel bekommen, weil der Feind 
uͤberall das ausgehungerte Heer umgab. Sich 
durchzuschlagen, schien ein Schritt der Verzweif⸗ 
luna, und war mit der groͤßten Gefasr verbunden. 
Der Untergang seines neuen Staates schien unver⸗ 
meidlich. Peler fuͤhlte das Schreckliche seiner Lage 
vollkommen. Sein boher Geist, der ihn fonst 
nie verließ, schien jezt von ihm gewichen zu seyn. 
Er verdarg sich in sein einsames Zelt, und verbot 
z8 auf's Strengste, iegend jemand vorzulassen. 
Katharina allein hatte den Muth, sich zu ihm 
zu draͤngen, sich vor ihm niederzuwerfen und ihn 
mit Thraͤnen zu ditten, nicht an sich selbst zu 
berzweifeln. Der Monarch ermannte sich endlich 
und Katharina ersann ein Mittel, durch welches 
sie den Czaar auf einmal aus seiner verzweifelten 
dage zog. Sie gieg im russischen Lager umher, 
ließ sich von allen Offizieren Geid, goldene Ringe 
und was sie sonst Kostbares besaßen, einhaͤndi⸗ 
zen, legte ihren eignen Schmuck hinzu, und bestach 
mit diesem bedeutenden Geschenk den Großvezir. 
Dieser Mang liebte uüͤberhaupt den Krieg nicht; 
verstand auch wenig von der Kriegskunst, und 
zog es daher vor, unter gewissen Bedingungen, 
welche Peter bei solcheu Unstaͤnden gern annaͤhm, 
mit diesem Frieden zu schließen, worauf er sogar 
das russische Heer mit Lebensmitteln versorgte. 
Auf solche Weise wurde Peter durch den gluͤck⸗ 
lichen Einfall Katharinens geret'et, welcher er 
bon dieser Zeit an das unbedingtesie Verirauen 
schenkte, urd da er in der Folge nie Ursoche hatte, 
ihr dasselbe wieder zu entzichen, so beschloß er, 
derselben den glaͤnzendsten Beweis seiner Zunei⸗ 
gung zu geben. Er erklaͤrte Katharina oͤffentlich 
fuͤr seine Gemalin und ließ sie am 18. Mui 1724 
zu Mosk u als Kaiserin mit großer Feier ichkeit 
kroͤnen. Peter starb im folgenden Jahre, worauf 
Katharina, vornehmlich darch die Mitwirkung 
Menzikoff's, die Nachfolgerin ihres großen Gemals 
und unter dem Namen Katharina der Ersten 
Beherrscherin eines der groͤßten und maͤchtigsten 
Reiche wurde. 
Karl Ludwig, Kurfuͤrst von der Pfalz, ver⸗ 
langte einst in seinen Angelegenheiten von mehreren 
seiner vertrautesten Raͤthe besondere Gutachten. 
Unter den eisgesendeten Schriften befand sich eine, 
in welcher die Wabrheit mit einer an Daeistigkeit 
grepzenden Freimuͤttigkeit gesagt wurde. Dlieses 
GBGutachten gefiel dem Karfuͤrsten unter allen am 
besten, und er fetzte den 4. Maͤrz 1678 mit eigner 
Hand folgende Worte hinzu: „Pfalz hat das 
Seriptum des Herrn N. gelesen und gefaͤllt Ihro 
die Ration bei mehreren Punkten gar wohl. Denn 
wenn man einem Kranken belfen will, so muß 
man ihn da angreifen, wo die Krankbeit liegt.“
	        
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