Full text: Kurhessischer Kalender // Amtlicher Kalender für das Kurfürstenthum Hessen (1836-1845)

Offenheit ihres Charakters und ihre bezaudernde 
Freundlichkeit gewannen das Herz der Probstin 
gar bald, und so empfand es die kleine Katharina 
auf keine Art, daß sie eine Waise sey. Sie that 
daher auch, als ob sie zum Heuse gehoͤre, fuͤhrte 
die Wirthschaft mit Eifer und Treue, und lernte 
dabei ihre Schulwissenschaften mit ungemeinem 
Fleiße. Dadurch machte sie sich bei ihren Pflege⸗ 
eltern in kurzer Zeit so beliebt, daß diese zwischen 
ihr und den eigenen Kindern nicht den geringsten 
Unterschied machten. Als Katharina zu reiferem 
Verstande gelangte, sah sie sehr gut ein, wie vie! 
sie ihren Pfiegeeitern zu verdanken habe, und that, 
was ihrem Herzen viel Ehre macht, das ernstliche 
Geluͤbde, auͤe ihre Kraͤfte anzuwenden, den guten 
Pflegeeltern durch Gehorsam, Ehrfurcht, Treue 
und steten Diensteifer ihre Dankharkeit thaͤtig zu 
beweisen.Sie hielt auch redlich Wort. Denn als 
nachher die Vorsehung sie auf eine so hohe Stufe 
des Gluͤckes und irdischer Groͤße emporhob, ver—⸗ 
sorgte sie alle diejenigen reichlich, die nur einiger— 
maßen mit ihren Erziehern und Pflegern verwandt 
waren; und auch ihren ersten Wohlthaͤter, den 
braven Schulmeister zu Runghen, vergaß ihr dank— 
bares Herz nicht, so kurze Zeit sie auch bei ihm 
zugebracht hatte. 
Ehe jedoch der artigen Katharine auch nur das 
Geringste von ihrem kuͤnftigen Gluͤcke traͤumen 
konnte, verdoppelte sich mit jedem Tage ihr Fleiß 
in haͤuslichen Geschaͤften, und sie thaͤt es darin 
allen anderen Kindern des Probstes zuvor. Dafuͤr 
genoß sie aber auch die ganze Gegenliebe und Zaͤrt⸗ 
lichkeit ihrer Pflegeeltern mit jedem Tage in hoͤhe⸗ 
rem Grade. Als die schoͤne Waise das vierzehnte 
Jahr zuruͤckgelegt hatte, besaß sie in allen weib— 
lichen Kunstarbeiten die groͤßte Fertigkeit, verstand 
die Hauswirthschaft vollkommen, und hatte dabei 
ihren Geist eben so wenig als ihr Herz vernach⸗ 
laͤssigt. Ihre Schoͤnheit wurde durch Sittsamkeit, 
ihre Artigkeit durch Bescheidenheit gehoben. Daher 
war sie uͤberall, wo sie hinkam, gern gesehen und 
galt wirklich in der ganzen Umgegend fuͤr das voll— 
kommenste weibliche Wesen. So sah sie ein schwe⸗ 
discher Feldwebel, und der Wunsch wurde in ihm 
rege, dieses liebenswuͤrdige Maͤdchen zur bestaͤn— 
digen Gefaͤhrtin seines Lebens zu besitzen. Da er 
nun ein Mann war, der in dem merkwuͤrdigen 
Kriege, welchen Karl XII. von Schweden mit dem 
Czaar von Rußland, Peter J., fuͤhrte, sich im 
Dienste nie einer Nahlaͤssigkeit, in der Schlacht 
nie der Feigheit und in der Garnison nie einer 
Bedruͤckung des Buͤrgers schuldig gemacht, son⸗ 
dern das allgemeine Lob eines braven Kriegers und 
redlichen Mannes hatte: so konnte Katharina nichts 
gegen ihn einwenden, versicherte ihm aber, wie es 
die Pflicht jedes rechtschaffenen Maͤdchens in einem 
solchen Falle ist, daß sie ohne Einwilligung ihrer 
Pflegeeltern, die sich so hoch verdient um sie ge⸗ 
macht haͤtten, Niemand in der Welt ihre Hand 
versprechen werde. Dem Probst gefiel dieser Beweis 
hres Verstandes und ihrer guten Gesinnung aller— 
dings sehr wohl; auch halte er an und fuͤr sich 
zegen den Mann nichts einzuwenden, desto mehr 
aber gegen seinen Stand. Er hielt es raͤmlich, 
nicht ohne Grund, fuͤr sehr bedenklich, bei der 
großen Erbitterung, mit welcher beide Heere gegen 
einander fochten, seine Pflegetechter an einen Kriegs⸗ 
mann zu verheirathen. Allein ein eigener Vorfall, 
welcher sich damals zutrug, stimmte ihn zum Vor⸗ 
theil eben dieses Kriegsmannes voͤllig um. Es war 
folgender. 
Einige schwedische Soldaten hatten sich in einem 
Wirthshause zu Marienburg betrunken und nicht 
allein den Wirth um die Zeche betrogen, sondern 
ihn auch noch uͤberdies mißhandelt. Katharinens 
Braͤutigam war nun gerade zu der Zeit, als er 
die Quartiere visitirte, vor dem Wirthshause vor⸗ 
hbeigekommen und hatte den Laͤrm gehoͤrt. Um den 
zufgebrachten Wirth zu befriedigen, und zugleich 
die schwedischen Soldaten von der Strafe zu be⸗ 
freien, die unter dem, strenge Mannszucht halten⸗ 
den Karl XII. gewiß sehr nachdruͤcklich gewesen 
seyn wuͤrde, bewog ihn sein gutes Herz, die ganze 
Zeche aus seinem Beutel zu bezahlen. Der Probst 
Bluͤck erfuhr diese Handiung und schloß daraus, 
daß der Feldwebel der rechtschaffene Mann wirklich 
seyn muͤsse, fuͤr den er alggemein gehalten wurde. 
Er glaudte, seine Pflegetochter werde mit ihm 
zluͤck ich leben koͤnnen, und gab seine Einwilligung 
zur Heirath. Alle Anstalten dazu wurden nun 
gemacht; der Hochzeittag erschien, aber am Mor— 
zen desselben mußte der Braͤutigam mit seinem 
Regiment ploͤtzlich nach der Hauptstadt Lieflands, 
Riga, aufbrechen. Katharina begleitete ihn dort— 
hin, in der Hoffnung, daselbst mit ihm ehelich 
verbunden zu werden. Aber, wider alles Erwarten, 
erschienen noch an dem naͤmlichen Tage, an welchem 
der Braͤutigam zu Riga eintraf, die Russen vor 
dieser Stadt. Sie machten einen Sturm. Der 
hwedische Feldwebel vertheidigte sich gegen den 
stuͤrmenden Feind auf den Waͤllen Riga's und fand 
dabei den Tod. Als die Stadt von den Russen 
ringenommen war, zogen die pluͤndernden Soldalen 
Katharinen aus einem Backofen, in welchen sie 
se versteckt hatte, ohne ihr jedoch ein Leid zu zu⸗ 
uͤgen. 
Sie hatte sogar Gelegenheit, zu entkommen, 
und begad sich wieder zu dem Proͤbst Gluͤck nach 
Marienburg. Dieser rechtschaffene Mann nebst 
seiner Gattin, welche wegen des Schicksals ihrer 
geliebten Pflegetochter sehr besorgt gewesen waren, 
empfanden eine unaussprechliche Freude bei ihret 
gluͤcklichen Ruͤckkehr und nahmen sie mit wahrer 
elterlicher Zaͤrtlichkeit auf. Allein nach Veriauf 
einiger Wochen kam der russische General Baͤuer 
mit der feindlichen Armee auch vor Marienburg.
	        
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