Full text: Kurhessischer Kalender // Amtlicher Kalender für das Kurfürstenthum Hessen (1836-1845)

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recht wußte warum? und wohin? Also wandelte der 
Moͤrder einsam dahin auf den einsamen Waldpfaden 
des Suͤllingswaldes, und erschrak, wenn die Blaͤtter 
rauschten und der Wind die Wipfel der Baͤume schuͤt⸗ 
telte, und wenn ein Rabe schrie, so duͤnkte ihn, er 
hoͤre die Todtenvoͤgel am Hochgerichte kraͤchzen, und 
shm zurufen: „auf's Rad! auf's Rad!“ und doch 
war er der menschlichen Gerechtigkeit entgangen; denn 
wer wollte ihn in Hessen, und zumal hier im tiefen 
Walde suchen? Wovor fuͤrchtete er sich denn? 
Da toͤnte der Schall eines Jaͤgerhorns laut und 
gellend ihm ins Ohr; und noch ein Horn wird laut 
und noch eins, und ein viertes und fuͤnftes, und um 
ihn herum erhebt sich schallendes Rufen und Hetzen 
und Bellen der Hunde; und es duͤnkt den Moͤrder, 
es waͤren die Posaunen und das Rufen des juͤngsten 
Gerichtes. „Dich wollen sie fangen“ denkt er, und 
rennt wie verzweifelt und von Sinnen in den Wald 
hinein — dem Gericht entgegen, dem er entfliehen 
will. Denn es bricht aus dem Dickicht, von den 
Hunden verfolgt, ein maͤchtiges hauendes Wildschwein, 
und rennt gerade auf den Moͤrder los. Er will aus⸗ 
weichen, aber er kann nicht; die Fuͤße sind ihm in 
den Boden gewachsen, gleich den Wurzeln der Buch— 
haͤume um ihn her. Das Schwein stuͤrzt sich auf 
ihn und zerfleischt ihn graͤßlich. Da findet ihn der 
Landgraf Philipp, welcher eben hier eine Jagd hielt 
und dicht hinter der Sau her war, schon dem Tode 
nahe am Boden liegen, laͤßt ihn aufheben, verbinden 
und nach Hersfeld bringen. Dort gestand er, was 
er gethan, und bekannte, daß Gott der Herr selbst, 
nachdem er den Menschen entflohen, uͤber ihn ein 
schreckliches, aber gerechtes Gericht gehalten habe; als 
das Schwein auf ihn losgerannt sey, habe er den 
ermordeten Schaͤfer leibhaftig mit zornigem Gesicht 
und bewehrt und gewappnet, wie einen reisigen Mann, 
auf sich losstuͤrzen sehen. Des andern Tags starb er. 
„Unsers Herrgotts Hand ist gar lang“ — das waren 
seine letzten Worte. 
Die Pfeife. 
Ich war noch ein Kind, sagt der beruͤhmte Frank⸗ 
lin, und kaum sieben Jahre alt, als meine Onkels 
und Tanten an einem Festtage mir eine ganze Hand 
boll Pfennige und andere kleine Muͤnze gaben. So— 
gleich ging ich auf einen Laden zu, in welchem aller⸗ 
lei Spielsachen fur Kinder verkauft wurden. Der 
Ton einer Pfeife aber, die ich im Gehen in der 
Hand eines anderen Knaben sah, entzuͤckte mich so 
sehr, daß ich ihm freiwillig fuͤr dieselbe meine ganze 
Baarschaft anbot. Schnell ging ich jetzt nach Haufe, 
wo ich pfeifend alle Stuben durchzog, mich mit die— 
sem Pfeifen sehr vergnuͤgte, aber meinen Aeltern 
zur Last fiel. Als meine Bruͤder und Schwestern 
hoͤrten, welchen schoͤnen Tausch ich gemacht hatte, 
versicherten sie mir, daß ich drei bis viermal mehr fuͤr 
die Pfeife gegeben habe, als sie werth sey. Nun 
dachte ich nach, welche schoͤne Sachen ich fuͤr das 
dem Knaben zu viel gegebene Geld haͤtte kaufen koͤn⸗ 
ien, und man lachte mich so sehr wegen meiner Ein⸗ 
'alt aus, daß ich vor Verdruß anfing zu weinen, 
uind es machte mir die Reue mehr Aerger, als mir 
die Pfeife Vergnuͤgen gemacht hatte.Die Sache 
ber machte einen steten bleibenden Eindruck auf mich, 
ind ward mir in der Folge sehr nuͤtzlich. Denn oft, 
venn ich in Versuchung kam, mir etwas Unnoͤ— 
thiges zu kaufen, sagte ich zu mir selbst: Gieb 
aicht zu viel fuͤr die Pfeife! und so sparlte ich 
nein Geld. — Als ich erwachsen war, in die Welt 
zing und die Handlungen der Menschen beobachtete, 
zlaubte ich oft, ja sehr oft auf Leute zu stoßen, die 
u viel fuͤr ihre Pfeife gaben. Sah ich einen 
Mann, der aͤngstlich nach Gunst der Großen strebte, 
und deshalb seine Zeit, seine Ruhe, seine Tuͤgend, 
eine Freunde aufopferte, so sagte ich zu mir selbst: 
dieser Mann giebt zu viehfürseine Pfeife! 
Sah ich einen andern sich eifrig mit fremden Sachen 
veschaͤftigen, seine eigenen aber daruͤber vernachlaͤssi⸗ 
gen und zu Grunde gehen, so sagte ich: wahrlich, 
der bezahlt zu viel für feine Pfeife! — 
Fand ich einen Geizhals, der sich selbst jede Bequem⸗ 
ichkeit des Lebens versagte, auf das Vergnuͤgen, 
Andern Gutes zu thun, und auf die Achtung seiner 
Mitbuͤrger gaͤnzlich Verzicht that, der die Freuden 
der Freundschaft dem Duͤrst, Schaͤtze zu haͤufen, auf⸗ 
opferte, so sagte ich: armer Mann! fuͤrwahr 
du bezahlst zu viel für deine Pfeife! — 
Traf ich auf einen Menschen, der bloß um sinnlicher 
Henuͤsse willen jede Ausbildung seines Geiftes ver⸗ 
aͤumte, so dachte ich: betrogener Mann! du 
chaffst viel fuͤr deine Pfeife! — Sah ich 
einen Menschen, der an schoͤne Kleider, schoͤne Moͤ⸗ 
veln ꝛc. Alles uͤber sein Vermoͤgen hing, wegen deren 
er Schulden machte, dann sagle ich: ach, der hat 
seine Pfeife theuer bezahlt! — Kurz, ich glaubte 
zu bemerken, daß die Menschen selbst sich den 
groͤßten Theil ihrer Uebel durch die falsche 
Schaͤtzung des Werths der Dinge und da— 
durch zuziehen, daß sie immer zu viel fuͤr 
ihre Pfeife geben! — 
Vergeßlichkeit. 
Vor etwa vierzig Jahren lebte in einem Hessischen 
Dorfe nicht weit von der Thuͤringischen Grenze ein 
Schuhmacher, der sich fruͤherhin auf der Wanderschaft 
vohl versucht hatte und ein geschickter Meister gewor⸗ 
den war, also daß aus der ganzen Umgegend, wer 
inen recht guten Schuh oder Stiefel wollte gemacht 
zaben, den Meister Volk aufsuchte. Er hatte mithin 
Nahrung vollauf, ja es konnte nicht fehlen, waͤre es so 
fortgegangen, er haͤtte in seiner Art ein sehr wohlhaben⸗ 
der Mann werden muͤssen. Aber der Schuhmacher⸗
	        
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