Full text: Kurhessischer Kalender // Amtlicher Kalender für das Kurfürstenthum Hessen (1836-1845)

Was ist wohl die Ursache so mancher Zwangsversteigerungen 
in Hessen? 
— 
Wenn man die Provinzial-Wochenblaͤtter zur Hand 
nimmt und darin so manche. Zwangsversteigerung 
liest, wie deren darin bekannt gemacht werden, dann 
moͤchte man wohl fragen, sind denn in Hessen so 
viele nachlaͤssige, traͤge oder verschwenderische Leute, 
welche sich lieber Hab' und Gut verkaufen lassen, 
als dem Muͤssiggange und dem Wirthshause entsagen 
wollen? Denn wenn so viele Menschen, die gar kein 
Eigenthum haben, und die nur von ihrer Haͤnde Arbeit 
leben muͤssen, keine Noth leiden, sondern sich und die 
Ihrigen ehrlich ernaͤhren, dann sollte man denken, daß 
die, welche von ihren Eltern Haus und Hof, oder auch 
nur einige Acker Land ererbt haben, sich um so leichter 
im Wohlstande erhalten koͤnnten! Ja, sagt Mancher, 
daran find die vielen Abgaben der Bauern schuld! 
Die Steuern zahlen aber die anderen Grundbesitzer 
auch, und gehen darum doch nicht zu Grunde, und 
alle uͤbrigen Äbgaben sind in den letzten zehn Jahren 
durch die Abloͤsungen und durch die Landeskredit— 
Kaffe bedeutend vermindert worden; denn seitdem ist 
der Zinssuß von fuͤnf Procent durchgaͤngig auf vier 
Procent gefallen, so daß alle Schuldner jaͤhrlich nur 
vier Thaler zu zahlen haben, wo sie fruͤher fuͤnf 
zahlen mußten. — Dann sind es wohl die schlechten 
Zeiten? DieZeiten sind aber nicht schlecht. Wer 
hat denn unseren Eltern und Voreltern dreißig Jahre 
Frieden gegeben, wie wir jetzt seit 1814 gehabt haben, 
und sind die Ernten im Allgemeinen nicht etwa 
reichlich ausgefallen und die Fruchtpreise nicht durch⸗— 
gaͤngig so, daß der Bauer dabei bestehen kann? — 
Warum kommen nun aber so vjele Familien zuruͤck, 
die doch arbeiten wie die andern, und verlieren zu— 
letzt Haus und Hof, ohne daß sie besser leben oder 
mehr durchhringen als ihre Nachbarn? Das will 
ich Dir sagen, uͤeber Leser: das kommt hauptfsaͤchlich 
von zwei Ursachen her. 
Es versteht sich indeß von selbst, daß wir hier 
nicht von Leuten sprechen, wie Dein Nachbar A..., 
der in's Wirthshaus geht, statt an den Acker; oder 
wie der Nachbar Bo.., der ewig Processe fuͤhrt, 
und seine Zeit und sein Geld vor Amt verliert, auch 
nicht von den Wuͤsten und Tollen, die ihr Vieh und 
ihr Geschirr muthwillig ruiniren; warum diese und 
aͤhnliche ihres Gelichters an den Bettelstab kom⸗ 
men, das kann ein jeder wissen, auch ohne in den 
Kalender zu sehen. Hier reden wir nur von solchen 
Familien, und deren giebt es doch auch, die sich das 
Leben recht sauer werden lassen, die sparsam sind 
und verstaͤndig, und die kaum so gut leben wie der 
Tageloͤhner, der weder Land noch Geschirx hat, und 
die dennoch zuruͤckkommen, so daß sie ihre Zinsen 
auch bei dem besten Willen nicht aufbringen koͤnnen 
und denen dann Alles verkauft wird. Solchen nun 
will ich jetzt sagen, wo der Fehler liegt. Der liegt: 
Erstens darin, daß sie entweder ein zu kleines 
Werk uͤbernehmen, oder ein solches, auf dem zu 
diel Schuld ruht. 
Sehet, bei einem Ackergut muß man zweierlei 
Bewinn oder Rente unterscheiden, einmal den Ge⸗ 
vinn, welchen der Eigenthuͤmer davon ziehen 
zann, ohne daß er nur eine Hand dabei regt, wenn 
er es naͤmlich verpachtet, und dann den Gewinn, 
velchen auch der Pachter noch durch seiner Haͤnde 
Arbeit daraus zieht; denn was dieser mehr aus seiner 
Ernte loͤst, als das Pachtgeld und seine baaren Aus— 
agen betragen, das ist der Gewinn seiner Arbeit, 
da ihm ja der Grund und Boden gar nicht gehoͤrt. 
Jenen Gewinn nennt man die Bodenrente, weil 
nan sie mit dem Boden kauft und verkauft, diesen nennt 
nan die Arbeitsrente, weil sie nur durch Arbeit 
zewonnen werden kann. Und was gewinne ich mit 
hiesen neuen Namen? Nur Geduld! Das wirst Du 
chon sehen. 
Wenn Du naͤmlich ein Gut, oder auch nur einen 
Acker uͤbernimmst, so mußt Du vor allen Dingen 
ermitteln, wieviel die Bodenrente betraͤgt, d. h. 
zu wieyviel Du das Land sicher verpachten koͤnntest; 
und wunn Du dann von dem Pachtgelde die Ab— 
Jaben, den Verlust an schlechten Paͤchtern und, so⸗ 
ern ein Haus dabei ist, die Kosten fuͤr Unterhaltung 
in Dach und Fach abgezogen hast, dann bleibt Dir 
die Summe, welche Du als den sichern Ertrag des 
Grundstuͤckes ansehen darfst. Ein Ackex, der hundert 
Thaler kostet, wird bei uns in der Regel nicht über 
bier Thaler reine Bodenrente liefern; wer also 
von seinem Lande auch nur soviel reines Einkommen 
im Jahre haben will, wie der Tageloͤhner in 
reiner Fabrik, welcher woͤchentlich seine zwei Thaler 
oerdient, der muß mindestens eine ganze Hufe 
oon etwa 80 Morgen schuldenfrei besitzen — denn 
n einer solchen stecken immer viele Laͤnder, von denen 
der Acker noch keine 100 Thaler werth ist. Das 
vußten unsere Vorfaͤhren recht gut, und darum 
mußte eine Hufe ungetheilt bleiben. Nachdem man 
sie aber in Haͤlften und Viertel getheilt hatte, da 
war es freilich gar vielen Besitzern wuͤnschenswerth, 
diese Viertel ganz zu zerschlagen. Wer jedoch klug 
ist, der kauft die Viertel wieder zusammen und be— 
dimmt, daß sie in der Familie ungetheilt bleiben. 
Der Bauer nun, welcher weniger als hundert 
Thaler reiner Bodenrente aus seinem Lande 
zieht, der ist eigentlich nur sein eigener Paͤchter,
	        
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