Full text: Kurhessischer Kalender // Amtlicher Kalender für das Kurfürstenthum Hessen (1836-1845)

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die Maͤßigkeits-Vereine. 
Wenn der Einzelne sich selbst zu helfen vermag, 
so thut er damit in der Regel am besten; auch ist er 
ja in den meisten Anforderungen und Noͤthen des Lebens 
zarauf augewiesen. Dadurch staͤrkt er seine Selbst— 
staͤndigkeit und befestigt sein Vertrauen; indessen giebt 
es auch wieder Falle genug, wo die inneren und 
aͤußeren Mittel des Einzelnen nicht genuͤgen und wo 
selbst der Wille des Einzelnen, einer Kraͤftigung, 
einer Aufmunterung oder eines gemeinsam 
gegeb men Seispiers zur Nachfolge bedarf. 
Da thun sich denn die Menschen zusammen; sie 
werden von einem Geiste durchdrungen und von 
einem Zwecke beseelt; das aber geschieht vor Allem, 
wenn allgemeine Noth da ist oder wenn das 
Vorhandenseyn eines wahren Beduͤrfnisses erkannt 
wird. 
Unsere Zeit ist reich an Vereinen jeder Art; 
man koͤnnte fast sagen, daß sie daran uͤberreich ist; 
doch, wie dem nun sey, genug — unter die große Zahi 
oon Vereinen, die da sind und die sich taͤglich mehren, 
gehoͤren auch die Maͤßigkeits-Vereine, d. h. jene, 
welche gegen eine Unmaͤßigkeit des Genusses starker 
geistiger Getraͤnke oder namentlich gegen den des 
Branntweins sich gebildet haben. 
Wie man zu sagen pflegt, war gewiß „Noth am 
Mann“, als sie sich bildeten und diese Noth muß 
zugenommen haben, wenn man sieht und hoͤrt, wie 
auch diese Vereine zunehmen. Die traurige Veran⸗ 
lassung oder das unabweisliche Beduͤrfniß zu ihrer 
Bildung und Vermehrung gehoͤrt nicht der „alten 
Welt“ an, — denn vor dreißig Jahren hat damit 
die „neue Welt“, — haben die vereinigten 
nordamerikanischen Staaten den Aufang 
gemacht. 
Dort, d. h. nicht unter den zur Zeit verhaͤltniß⸗ 
maͤßig wenigen Urein wohnern, sondern unter den 
Europaͤern, deren Vorfahren vor etwa 260 Jahren 
einwanderten, sah es in dieser Hinsicht truͤbe oder 
trunken aus. Im Jahr 1810 wurden von einer da⸗ 
maligen Volksmenge von etwa 7,800,000 Seelen — 
7239, 810 38, 865, 859 Gallonen d. h. circa 835,000 
Casseler Ohm verzehrt, so daß auf jeden Saͤugling wie 
auf jeden Greiß, auf jeden Knaben und auf jedes 
Maͤdchen, auf jeden Mann und jede Frau etwa zehn 
Maas jaͤhrlich kamen. Dabei blieb es indessen nicht; 
die Unmaͤßigkeit nahm zu und im Jahre 1830 wurden 
zwei und siebenzig Millionen Doppelmaas (Gallonen) 
Toll- oder Todwasser im Lande verbraucht, was auf 
jeden Einwohner, groß und klein, jung und alt — 
im Verhaͤltniß damaliger Bevoͤlkerung (12886,920) 
circa zwoͤlf Casseler Maas ausmacht. 
Schon in 1814 berechnete man, daß in den ver— 
einigten Staaten jaͤhrlich nicht weniger als 6000 Men— 
schen in Folge dieses unmaͤßigen Genusses hinstarben; 
in 1880 war die Zahl noch weit hoͤher und es wurde 
dargethan, daß von allen begangenen Verbre— 
chen *) vier Fuͤnftel, — von allen entstanm— 
denen Verarmungen drei Viertel — und 
von allen vorkommenden Geisteszerruüttun— 
gen die Haͤlfte — ihre Schuld und Urfache in jene 
Unmaͤßigkeit zu suchen haͤtten. 
Solche Erscheinungen mußten aufmerksam machen: 
man sah ein, daß nur durch gemeinsame Maasregeln 
dem mehr und mehr um sich greifenden Uebel mi 
Erfolg entgegen gewirkt werden koͤnne und dem Staat' 
Massachufsetts (in 1840 mit einer Bevoͤlkerung 
von 739,806 Seelen) gebuͤhrt die Ehre, den ersten 
Maßigkeits-Verein im Jahr 1818 gestiftet zu 
haben. 
Die ersten Vereine waren blos gegen die Um 
maͤßigkeit gerichtet; man fand aber, daß dadurch 
der Zweck nicht erreicht wurde und so entstanden 
dreizehn Jahre spaͤter — am 18. Februar 1826 — die 
Gesellschaften, deren Mitglieder dem Genuß 
des Branntweins gaͤnzlich entsagten. M 
1835 zaͤhlte man in den verschtedenen Siaaten von 
Nordamerika achttausend solcher Vereine; 4000 
Brennereien waren eingegangen, 8000 Branntwein—⸗ 
handlungen aufgegeben, und um euch, liebe Freunde 
einen schlagenden Beweis zu geben, daß dieses 
Getraͤnk, welches selbst maͤßig genossen, weder naͤh⸗ 
rend noch staͤrkend genannt werden kann, auch bet 
den schwersten koͤrperlichen Dienstverrich 
tungen ganz entbehrlich ist, so genuͤge es⸗ 
wenn ihr wißt, daß zwoͤlfhundert amerikanische 
Schiffe in See waren, von denen kein ein⸗ 
ziges Branntwein an Bord hatte. — Man 
kann mit Zuverlaͤssigkeit annehmen, daß jetzt fuͤn! 
Millionen Menschen (etwa der dritte Theil der 
Bevoͤlkerung) in Amerika leben, die keinen Tropfen 
tenes Getraͤnks mehr zu sich nehmen. 
Die Maͤßigkeits-Vereine giengen nun, als man ihre 
Ergebnisse kennen und wuͤrdigen lernte, in die „alt 
Welt“ uͤber. Bei weitem nicht alle Laͤnder unseres 
europaͤischenWelttheils sind von jener Krankheit en 
griffen, aber da, wo es der Fall ist, da wo sich Beduͤrf 
aiß und Nothwendigkeit aussprachen, da wurde jenen 
Beispiel nachgeahmt und so traten aͤhnliche Vereine 
nach und nach in Irland, Schottland, England, 
in Schweden, aber auch in mehreren Theilen 
Deutschlands auf. 
In England, worauf, wie auf das amerikanische 
Land hier und da mit besonderer Vorliebe hinge 
wiesen zu werden pflegt, wurde vor kaum viet 
Jahren (am 80. November 1837) im Parlamente 
nachgewiesen, daß in England und Wales (daruntet 
sind Irland und Schottland nicht begriffen) im Jahre 
1807 etwa achtzehn Millionen Muaas, im Jahr 
Amtliche Nachforschungen haben ergeben, daß von 
etwa zweihundert Mordthaten, die 1831 in den 
esnigten Staaten vorkamen (freilich eine arge Sum 
an und fuͤr sich), kaum eine sich fand, bei der e 
Trunkenheit nicht im Sviel gewesen sep.
	        
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