Full text: Kurhessischer Kalender // Amtlicher Kalender für das Kurfürstenthum Hessen (1836-1845)

Erprobtes Mittel, die Kinder zu Luͤgnern zu erziehen. 
(nach Salzmann.) 
Meister Stephan verstand dieses Mittel aus dem 
Grunde, Er ließ nie einen Tag vergehen, ohne seinen 
leinen Christian mindestens zu Einer Luͤge anzuhalten. 
Hatte Christiaͤnchen etwas zerbrochen und fuͤrchtete 
sich vor der strengen Mutter, so belehtte ihn der Papa: 
sag' nur, die Katze habe es gethan; und Christiaͤnchen 
freuete sich dann nicht wenig, wenn statt seiner die 
unschuldige Katze mit dem Besenstiel bewillkommt 
vurde. — 
Ein andermal wollte das Soͤhnchen gern mit den 
Nachbarskindern auf der Straße spielen, aber die 
Mutter war ausgegangen und haͤtte gesagt: wenn ich 
nach Hause komme, dann muͤssen die Kartoffeln ge⸗ 
schaͤlt sein, sonst setzt's was. D, meinte dann der 
alte Stephan, geh' nur erst ein Stuͤndchen 'naus und 
wenn du etwa, nicht ganz fertig wirsi, so sag' der 
Mutter, du haͤttest erst noch fuͤr die Schule lernen 
muͤssen. 
Frau Stephan war auch etwas genau. Bat der 
Kleine sie um einen Dreier zu Kirschen oder Erdbeeren, 
so hieß es: Pepperlepep, wozu Kirschen fuͤr so 'nen 
Jungen. Darum aß er aber doch alle Tage Kirschen 
oder Erdbeeren oder andere Naͤschereien; denn der 
Vater steckte ihm einen Dreier nach dem andern zu. 
Doch sagte er stets dabei: Geh hin und kauf dir etwaͤs! 
Laß es aber deine Mutter nicht sehen! Und wenn sie 
es etwa doch sehen sollte, so sprich, dein Pathe haͤtte 
dir das Geld gegeben. 
Christiaͤnchen ging auch nicht gern in die Schule. 
Wenn er fort sollte, so klagte er bald uͤber Bauchweh, 
hald uͤber Kopfschmerzen, und der Vater ließ ihm das 
Alles durchgehen. Kam nun der andere Tag, dann 
fuͤrchtete er sich gar; dann hieß es: Ach ich geh' nicht 
in die Schule, ich kriege Schlaͤge, weil ich gestern 
aicht darin gewesen bin. Naͤrrchen, sagte dann Meister 
Stephan, sprich doch nur, du haͤttest gestern muͤssen 
Glaubersalz einnehmen. Der Herr Schulmeister muß 
das wohl glauben, oder er mag bei mir nachfragen. 
Der junge Stephan machte auf diese Weise in kur⸗ 
zer Zeit die besten Fortschritte im Luͤgen. Er wußte 
oft ganze Geschichten, an denen kein wahres Wort 
war, zu erzaͤhlen, ohne roth zu werden. Da— 
* 
aun der Alte und sagte, das ist ein durch 
Vogel, der hat den Kopf auf dem rechten 
Aber freilich machte er, da er groͤßer wurde, au⸗ 
nanches Stuͤckchen, das seinem Vater nicht gefiel. 
Sonntags fruͤh ging er gemeiniglich in eine Schent 
ind sagte bei seiner Zuruͤckkunft, er sei in der Kirch 
zewesen. Die Woche hindurch lief er halbe Tage 
ang von der Arbeit, unter dem Vorwaud, er so 
zu seinem Pathen, zur Base oder zur Großmutte 
vommen. Statt dessen saß er in aͤllerlei schlechten 
Haͤusern, wo ein Thaler nach dem andern drauf ging 
Der Vater vermißte nach und nach Geld, Waͤsche 
und Handwerkszeug. Er gab genau Acht, konnte 
ber nichts entdecken. Ich muß, sagte er einmal be 
Tische, einen Spitzbuben im Hause haben, das kam 
aicht anders sein. Den muß ich herauskriegen, es 
nag kosten was es wolle. Der junge Stephan ward 
veder blaß noch roth. Er nahm den Vatel zur Seite 
und zischte ihm ins Ohr: wollt ihr wissen, wer euet 
Dieb ist? das ist der Gefelle. Dea laͤßt in allen 
Wirthshaͤusern soviel aufgehen, daß die ganze Stadt 
davon spricht. Am Sonntag hat er in der Herberge 
unter anderen einen Sternthaler gezeigt. Ist Euch 
gielleicht ein solcher weggekommen? 
Das war genug, uͤm Meister Stephan zu uͤber 
zeugen; er griff den Gesellen auf den Diebstahl an 
and nannte ihn einen Spitzbuben. Gut, sagte de' 
Geselle, der Spitzbube soll Euch theuer zu stehen kom⸗ 
men, lief auf's Rathhaus und verklagte den Meister 
velcher ihm eine Ehrenerklaͤrung thut und m 
Strafe dazu erlegen mußte. 
Wie es nun zu gehen pflegt. Der Krug geht 
ange zu Wasser, bis er zerbricht. Meister Stephan 
am nach und nach hinter alle Schelmereien seines 
Sohnes. Er schmaͤite, er pruͤgelte, er drohte mit dem 
zuchthause; aber es war zů spaͤt! Der ganze Haus⸗ 
halt kam durch den ungerathenen Sohn in Unordnung 
ind Stephan verlor endlich alle seine Kunden. Da 
oll er dann in seinem Elend oft geklagt haben: Ich 
armer Mann! In alle das Ungluͤck hat mich mein 
Junge, der Galgenstrick, gestuͤrzt. Kein wahr Wori 
geht ihm aus dem Maui. “Wenn ich nur wuͤßte, wo 
er das verdammte Luͤgen gelernt hat? 
— — — 
Wer fragt, wird beschieden. 
Es ritt einmal an einem Wirthshause ein Mann vor⸗ 
ei, der einen stattlichen Schmerbauch hatte, also, 
ã er auf beiden Seiten fast uͤber den Sattel her⸗ 
exr hing. Der Wirth stand auf der Treppe und 
hm nach: „Nachbar, warum habt Ihr dann den 
— ñ3* 
Zwergsack vor Euch auf das Roß gebunden und nich 
zinten?“ „Darum,“ rief der Reiter zuruͤck, „daß ich 
hn unter den Augen habe; denn hinten giebt es Spitz 
uben.“ Der Wirth sagte nichts mehr. 
(Hebel.“
	        
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