Full text: Kurhessischer Kalender // Amtlicher Kalender für das Kurfürstenthum Hessen (1836-1845)

Partei dort wieder empor. Noch gefaͤhrlicher schien es 
aber fuͤr die Freiheit Deutschlands zu werden, als ums 
Jahr 80 der cheruskische Fuͤrst Chariomer ein offenes 
Freundschaftsbuͤndniß mit den Roͤmern schloß. Da 
vertrieben die Chatten den Roͤmerfreund, der nun 
bei dem damaligen Kaiser Domitian vergebens Huͤlfe 
suchte, und seitdem erscheinen sie als das maͤchtigste 
Volk im westlichen Deutschland, bis sie ums Jahr 890 
im Bunde der Franken auftreten. Dadurch kam ihr 
besonderer Stammname, wie fruͤher zur Zeit des 
suevischen Bundes, allmaͤhlig in Abgang, und nach 
dem Jahre 455 verschwindet der Name Chatten 
ganz und gar. Von den spaͤtern Schriftstellern, die 
keine Roͤmer mehr waren und sich wohl genauer nach 
der bei den Deutschen uͤblichen Aussprache richteten, 
werden sie Hessen genannt, welchen Namen wir 
nun noch immer tragen. 
Zum Schlusse stehe hier die Schilderung, welche 
einer der ausgezeichnetsten roͤmischen Geschichtschreiber, 
Namens Tacitus, ums Jahr 100 nach Christi 
Geburt seinen Landsleuten von dem Chattenlande und 
dessen Bewohnern gemacht hat. „Die Wohnsitze der 
Chatten, so erzaͤhlt er, beginnen mit dem herzini— 
schen ) Walde und endigen auch in demselben. Sie 
sind nicht so eben und sumpfig, wie viele andere 
Gegenden Deutschlands, sondern bald mehr bald 
weniger huͤgelig. Das Volk ist stark gebaut, hat 
kraͤftige Glieder, einen drohenden Blick und noch mehr 
Muth. Auch sind sie, soviel man von Deutschen er⸗ 
warten kann **) klug und einsichtsvoll. Zu Anfuͤhrern 
waͤhlen sie die Tuͤchtigsten und gehorchen ihnen dann. 
Sie kaͤmpfen in Reihe und Glied, passen die Gelegen⸗ 
heit ab, verschieben den Angriff, stellen sich am Tage 
nach den Umstaͤnden auf und verschanzen sich bei 
Nacht; sie verlassen sich wenig aufs Gluͤck, am meisten 
auf ihre Tapferkeit, und, was sehr selten ist und nur 
durch gute Kriegszucht erreichbar, sie zaͤhlen mehr auf 
den Feldherrn als auf das Heer. Ihre Hauptftaͤrke 
besteht im Fußvolk, welches außer den Waffen auch 
noch Eisengeraͤthe und Lebensmittel zu tragen hat. 
Andere Voͤlker eilen nur zur Schlacht, die Chatten 
fuͤhren Krieg; Streifzuͤge und zufaͤllige Gefechte 
ommen bei ihnen selten vor. Auch ist das mehr eine 
Sigenthuͤmlichkeit berittener Voͤlker, schnell zu siegen 
und schnell zu fliehen. Die Schnelligkeit ist aber 
meist eine Begleiterin der Furcht, zur Bedachtsamkeit 
gehoͤrt standhafter Muth. — Eine Sitte, die bei den 
andern deutschen Voͤlkerschaften nur selten vorkommt 
und zwar nur bei einzelnen Muthigen, ist bei den 
Chatten allgemein herrschend geworden: alle jungen 
Maͤnner lassen naͤmlich Haupthaar und Bart wachsen, 
* Harz oder Hardt bedeutet im Deutschen eigentlich „Wald“ 
und darum heißen im Hessischen noch heutigen Tages so 
viele Waldstrecken die Hardt. Tacitus meint hier die 
Gegend vom Vogelsberg bis zum Harz. 
Die Roͤmer betrachteten damals unsere Voreltern etwa 
wie wir jetzt die halbwilden Volksstaͤmme in Amerika. 
his sie den ersten Feind erlegt haben. Nach vollbrach 
ter blutiger Waffenthat enthüͤllen sie dann das Gefich 
und glauben erst nun ihre Schuld fuͤr die muͤtterliche 
Pflege abgetragen zu haben, ihres Vaterlandes und 
hrer Eltern wuͤrdig zu sein. Wer nicht in den Krieg 
ieht oder feige ist, der behaͤlt das haͤßliche Ansehen 
ein Leben lang. Außerdem tragen die Tapfersten 
einen eisernen Ring, was bei ihnen ein schimpfliches 
Abzeichen ist, gewissermaßen eine Fessel, die sich nur 
durch die Erlegung eines Feindes loͤst. Viele Chatten 
ragen einen solchen Ring aus Wohlgefallen bis sie 
alt 'und grau werden, und stehen deßhalb bei Freund 
und Feind in hoher Achtung; sie beginnen eine jede 
Schlacht und stehen immer in der ersten Linie, wa 
⸗inen ungewoͤhnlichen Anblick darbietet, denn selbs 
m Frieden haben diese Maͤnner stets ein kriegerisches 
rotziges Ansehen. Keiner von ihnen hat Haus und 
Hof oder irgend eine wirthschaftliche Sorge. Zu wem 
sie kommen, der versieht sie mit dem noͤthigen Lebens⸗ 
zedarf; so zehren sie von fremdem Gut und achten 
das eigene nicht, bis ihnen endlich die Entkraͤftung 
des Auͤers einen so harten Kriegsdienst nicht mehr 
gestattet.“ 
Nach dieser Schilderung darf es uns freilich nicht 
befremden, daß uͤnsere Vorfahren in unaufhoͤrliche 
Kriege verwickelt waren, entweder mit ihren Nach⸗ 
barn selbst, oder in Verbindung mit diesen gegen 
taͤrkere Feinde, die von außen drohten. Auf den 
Krieg war ja ihre Lebensweise fast ausschließlich be— 
technet, und vielleicht verdanken wir es auch nur dieset 
Besinnung, daß sie unter so vielen und so heftigen 
Stuͤrmen ihre Freiheit und Unabhaͤngigkeit fo viele 
Jahrhunderte hindurch gluͤcklich behaupten konnten. 
Ihre sonstige Lebensart, ihre Sitten und Gebraͤuche 
varen fast dieselben, wie bei allen deutschen Voͤlkerschaf⸗ 
den jener Zeit. Sie bewohnten weder Staͤdte noch 
zeschlossene Ortschaften, sondern einzelne Hoͤfe, oder 
zuch Doͤrfer, in denen jedoch jedes Haus von einem 
reien Platze umgeben war. Man baute weder mit 
Steinen, noch hatte man Ziegeln: Holz, Lehm und 
Stroh waren, wie noch jetzt in manchen Gegenden 
Deutschlands, das uͤbliche Baumaterial; auch bemalte 
nan die Haͤuser schon damals hin und wieder mit 
»unten Erdfarben. Dennoch fanden die Roͤmer *) die 
Wohnungen der Deutschen weder schoͤn noch bequem, 
und wunderten sich, daß man in Deutschland, „unterir⸗ 
zische Hoͤhlen“ grabe und mit Mist bedecke, um im 
Winter zu Aufbewahrung der Vorraͤthe, und selbst 
zei strenger Kaͤtte zum Zufluchtsort fuͤr die Menschen 
zu dienen. 
Jedes Dorf hatte seine Feldmark, deren Groͤße zu 
der Anzahl der Einwohner im Verhaͤltniß stand. Die 
einzelnen Laͤndereien waren aber nach dem verschiedenen 
Stand und dem Ansehen eines jeden unter die Ein⸗ 
) Diese Beschreibung ist ebenfalls fast woͤrtlich dem genann 
ten roͤmischen Geschichtschreiber entlehnt. 
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