Full text: Kurhessischer Kalender // Amtlicher Kalender für das Kurfürstenthum Hessen (1836-1845)

und den Frieden mit Gott und den Menschen, son— 
dern weil es der erste Schritt zur Selbststaͤndigkeit 
ist, daß der Mensch sich einen anstaͤndigen Lebens— 
unterhalt schaffe, und weil der, welcher das nicht 
will oder nicht kann, gar nicht wuͤrdig ist, in die 
Reihe der Familienvaͤter zu treten; denn „wer nicht 
arbeiten will, der soll auch nicht essen,“ und noch 
viel weniger kann er Andern zu essen geben. Worin 
besteht aber nun ein anstaͤndiger Lebensunterhalt, und 
nach wieviel Einkommen soll der Mann trachten, 
bevor er verstaͤndigerweise dazu schreiten darf, eine 
Familie zu gruͤnden? — Jeder Buͤrgermeister beant—⸗ 
wortet diese Frage mehr als einmal im Jahr, denn 
er muß denen, welche sich verheirathen wollen, eine 
Erwerbsbescheinigung geben, und daß ist doch 
nichts anderes als das Zeugniß, daß der Braͤutigam 
ein anstaͤndiges Auskommen habe. Ich weiß nicht, 
ob dieselben dabei nach einem bestimmten Grundsatze 
oder nur so nach Gutduͤnken verfahren. Jedenfalls 
ist die Beantwortung nicht leicht, und darum will 
ich dann auch eine solche versuchen, die jedoch mehr 
fuͤr den Braͤutigam berechnet ist, als fuͤr den Herrn 
Buͤrgermeister: „Zu einem anstaͤndigen Aus— 
kommen gehoͤrt, daß man etwas mehr ein— 
nehme, als eine Familie von durchschnitt— 
lich funf Personen zu ihrem behaͤglichen 
Unterhalt braucht.“ — Dieß ist die allgemeine 
Antwort, welche auf reich und arm paßt, wobei 
uͤbrigens noch zu erlaͤutern bleibt, wie viel zu einem 
behaglichen Unterhalt erforderlich ist, und da 
sage ich: „gerade so viel, als man zur Befrie— 
digung der Beduͤrfnisse braucht, an die man 
sich gewoͤhnt hat.“ 
„Wie du dich gewoͤhnst, so hast du dich,“ 
sagt das Spruͤchwort, und das findet hier seine volle 
Anwendung, denn groͤßtentheils haͤngt es von deiner 
Gewoͤhnung und von der Zahl, nicht etwa deiner 
wirklichen, sondern deiner angewoͤhnten Beduͤrfnisse 
ab, ob du bei deiner Einnahme ein behagliches Leben 
fuͤhren kannst, oder darben muͤssest. An und fuͤr 
sich ist kine Summe hinreichend, um Jemanden ein 
reichliches Auskommen zu sichern. Ich habe Maͤnner 
gekannt, die bei einigen tausend Thalern jaͤhrlicher 
Einkuͤnfte stets in Geldverlegenheit waren und Maͤn— 
gel zu leiden glaubten, waͤhrend andere mit einigen 
Hunderten nicht nur im Wohlstand lebten, sondern 
auch ihre Kinder sorgfaͤltig erzogen und neben einem 
Nothpfennig selbst fuͤr Nothleidende noch immer etwas 
uͤbrig hatten. Die Einnahme allein ist es daher kei— 
nesweges, die den Wohlstand begruͤndet, sondern das 
Verhaͤltniß der Ausgabe zu der Einnahme, und das 
kann ein jeder nach Belieben feststellen, wenn er sich 
und den Seinen nur nicht zu viel eingebildete 
Beduͤrfnisse angewoͤhnt hat. Ich will' mich deut— 
licher erklaͤren: von dem Tageloͤhner an, der laͤglich 
nur vier bis sechs Groschen verdient, mithin nach 
Abzug der Sonn- und Festtage und der verdienst 
losen Zeit etwa 50 bis 60 Thaler einzunehmen hat 
und davon auf seine Weise ein ordentliches Auskom⸗ 
men findet, bis zu dem Kapitalisten oder sonstigen 
Beschaͤftsmann, welcher seine 2000 Thaler jaͤhrlich 
einnimmt, wollen wir einmal alle Familien nach 
hrem Einkommen abtheilen und annehmen, daß 
mmer eine 100 Thaler mehr zu verzehren habe, 
als die andere. Zur ersten Klasse wuͤrden dann die 
Familien gerechnet, welche von wenigerals 100 Tha— 
iern leben; zur zweiten die von 100 Thalern; zur 
dritten die von 200 Thalern u. s. w., im Ganzen 
21 Klassen. Diejenigen, welche mehr als 2000 Tha—⸗ 
ler Einkuͤnfte haben, wollen wir als die bei uns am 
venigst zahlreichen in die 2ste Klasse setzen, umge— 
kehrt wie in der Klassensteuer, wo sie die erste 
Klasse bilden. 
Hoͤrt man nun diese Leutchen von Nr. 22, mit 
2⸗ bis 3000 Thalern jaͤhrlicher Einnahme reden, so 
ist da dennoch des Klagens kein Ende. Nach ihrer 
Meinung ist es kaum moͤglich, den fuͤr ihren Rang 
nothwendigen Aufwand damit zu bestreiten, die Kinder 
tandesmaͤßig zu erziehen, denselben eine Zukunft zu 
sichern und dergleichen mehr. Auch sind das keines— 
vegs nur so Redensarten, sondern viele machen wirk⸗ 
ich Schulden, sie plagen sich und andere, um bei 
allen Ausgaben etwas abzudingen und zu jeder Ein⸗ 
aahme etwas hinzuzurechnen, und wenn eine wahr—⸗ 
daft nothwendige Ausgabe kommt, dann fehlt es doch 
an Geld. Jad gerade bei den Reichsten muß der 
Arbeiter von seinem sauer verdienten Lohn am haͤufig⸗ 
sten noch schwinden lassen. Und woher kommt das? 
Aus der sehr einfachen Ursache, weil sie so leben 
wollen, als haͤtten sie das Doͤppelte von dem auf⸗ 
zuwenden, was sie wirklich besihen; da muͤffen sie 
denn natuͤrlich auf der einen Seite kargen, um auf 
der andern in Kleidern, Moͤbeln, Gesellschaften, Spiel 
und Theater es allen Uebrigen zuvorzuthun, und auf 
die Laͤnge laͤßt es sich doch felten ausfuͤhren, vielmehr 
ist schon gar manche reiche Familie auf diese Weise 
in den Bettelstab gekommen. — Macht es aber die 
Klasse Nr. 22 allein so? Keineswegs! Gar viele 
Familien von Nr. 21, welche 2000 Thaler einzu⸗ 
nehmen haben, ruiniren sich, weil sie mit Nr. 2 
zleichen Schritt halten wollen und nicht bedenken, 
daß 2nie so viel seyn kann als 3, und so geht es 
fort bis zu denen von Nr. 1, welche bei 50 Thaler 
darben muͤssen, wenn sie ihren Haushalt dem gleich 
stellen wollen, welcher durch gluͤcklichere Verhaͤltnisse 
deguͤnstigt, 100 Thaler einzunehmen hat. 
Diese Sucht, im Aufwand es immer denen gleich 
thun zu wollen, die mehr haben als wir, ist die 
eigentliche Quelle der boͤsen Zeiten, uͤber die man so 
haͤufig klagen hoͤrt; denn im Allgemeinen wohnen 
und leben wir Alle besser und bequemer als unsere 
Paͤter und Großvaͤter, und die meisten Erwerbsquellen 
sind ergiebiger geworden; wenn aber die eingebildetn 
Beduͤrfnisse in noch groͤßerem Maaße gestiegen sind,
	        
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