Full text: Kurhessischer Kalender // Amtlicher Kalender für das Kurfürstenthum Hessen (1836-1845)

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vir nicht einmal ganz fertig zu bauen vermoͤgen, 
sind errichtet worden obne Branuntewein; 
ind selbst unser hessisches Vaterland, das vor 
etwa zwoͤlfhuudert Jahren durch viele zerstoͤrende 
Voͤlkerzuͤge fafst zur Einoͤde geworden war ist 
durch fleißige Haͤnde wieder urbar gemacht wor⸗ 
den ohne“ Branntewein! Wie. kann man 
da behaͤupten, daß wir das angebaute Land 
ohne Brauntewein nicht einmal zu bearbeiten 
im Stande seien? Seht das ist schon der leidige 
Beist des Brannteweins, der aus den Trinkern 
rcht und der sie naͤchstens zu Saͤufern machen 
wird. 
Aber ich will mich nicht bloß auf die Zeiten 
berufen, wo die Leute den Branntewein noch 
gar nicht kannten; auch zu unsern Zeiten sind 
wackere Maͤnner zusammen getreten, die keinen 
Braͤnntewein mehr trinken wollen, um durch ihr 
gutes Beispiel die Brannteweinspest zu bekaͤm⸗ 
pfen. Ich habe oben erzaͤhlt, wie die indianische 
Bevoͤlkerung von Nordamerika durch den Branu⸗ 
sewein so gut wie ausgerottet ist. Bald ging es 
aber den euͤropaͤischen Einwanderern daselbst nicht 
besser; denn da dort jeder brennen kann, ohne 
Abgaben zu geben, und ausschenken, wer Lust 
hat, so griff die Trinkwuth dergestalt um sich, 
daß man bald einsah, die neue Bevoͤlkerung werde 
benso im Branntewein untergehen wie die alte. 
Da Uraten im Jahre 188 die Verstaͤndigsten 
unter den Brannteweintrinkern zusammen, und 
schlossen einen Bund gegen den boͤsen —X 
indem sie sich verpflichteten, nicht nur selbst 
reinen Branntewein mehr zu trinken, 
sondern auch ihren Arbeitern statt des Brann⸗ 
eweins das Geld dafuür zu geben, und 
vorzugsweise nur solche Arbeiter zu nehmen, 
welche keinen Branntewein dafuͤr kaufen, sondern 
das Geld in eine Sparkafse legen wuͤrden. Diese 
Maͤßigkeitsgesellschaft hat sich seitdem so 
ausgebreitet. daß 4000 Brennereien ihr Geschaͤft, 
and Aber 8000 Kaufleute ihren Handel mit Brann⸗ 
rewein ganz aufgegeben haben. Sogar die Schiffe 
gehen schon zum Theil ohne Branntewein zur 
See, weil auch viele Matrosen dem Verein bei⸗ 
getreten sind, wie man das in dem schoͤnen Buͤch⸗ 
lein: die Braͤnnteweinspest von Zschokke 
(fuͤr 5 gGr. in allen Buchladen zu haben) aus⸗ 
fuͤhrlich lesen kann. 
Uebrigens brauchen wir nicht einmal nach 
Amerika zu gehen, um uns von dem guten Er⸗ 
folge der Maͤßigkeit zu uͤberzeugen. Giebt es 
doch ein Voͤlkchen unter uns, welches durch Th aͤ⸗ 
tigkeit and Maͤßigkeit loͤblich ausgezeichnet, 
der Verfuͤhrung des Brannteweins bis jetzt so 
ziemlich widerstanden hat, und dabei im Ver⸗ 
zleich zu den uͤbrigen Bewohnern des Landes an 
Zahl 'und an Woblstand taͤglich zunimmt. 
Ich meine bdie Juden. „Ja!“ wird mir man⸗ 
her Kalenderleser entgegnen, „die werden 
haupfaͤchlich reich von dem Betrug, den 
fie an den Christen veruͤben“, und auch 
ich will die Art und Weise, wie manche unter 
hnen vorzugsweise mit bedraͤngten Schul d⸗ 
nern zu verfahren pflegen, keineswegs in Schutz 
rehmen; aber der Spruch: „ungerechtes 
Gut gedeiht nicht“ wuͤrde sich bei den Juden 
vwie bei den Christen bewaͤhren, wenn sie ihren 
Wohlstand lediglich dem Wucher zu verdanken 
haͤtten. Diesen Wohlstand verdanken sie vielmehr 
groͤßtentheils drei Loͤblichen Eigenschaften, 
sa welchen sie die meisten Christen uͤbertreffen; 
sie sind naͤmlich maͤßig, sie sind thaͤtig und 
sie koͤnnen gut rechnen. Diese drei Dinge 
sind so wichtig, daß jedes derselben eigentlich ein 
eigenes Kapitel verdiente; jetzt geht uns aber 
aur die Maßigkeit an. Wie selten sieht man 
inen Juden beirunken? und gewiß niemals bei 
einer Versteigerung oder wenn ein Han⸗ 
deigeschlosfen wird. Darin muͤssen wir uns 
die Juden zum Muster nehmen, statt ihrer zu 
spotten und uͤber sie zu schimpfen; sonst sind wir 
toͤrperlich und geistig gegen sie verloren, und ihre 
Enkel werden das Land unserer Vaͤter besitzen. 
Denn nicht den Trunkenbolden gebhoͤrt die 
Welt, sondern den Fleißigen und Nuͤchter⸗ 
nen, und diesen wird sie auch zufallen. 
Du aber, lieber Leser, der Du den Kalender 
in diesem Augenblick in der Hand haͤltst, was 
sagst Du zu diesem Allem? Lege die Hand aufs 
Herz und frage Dich: ist es wahr, daß der 
Branntewein so viel Unheil in der Welt 
anrichtet, als der Kalendermann da 
behauptern? und ferner: bin ich auch etwa 
iner von denen, die der Branntewein 
täglich um ihre Groschen und von Zeit 
zu Zeit um ihren Verstand bringt? Hoffent⸗ 
ich beantwortest Du die erste Frage mit ja! und 
die zweite mit nein! Solltest Du jedoch so 
angluͤcklich sein, auch die zweite mit ja beant⸗ 
vorten zu muͤssen, dann bitte ich Dich, sofern 
Dir Deine Gesundheit, Deive Familie, 
Dein zeithliches und Dein ewiges Heil lieb 
st, es zu machen wie die braven Amerikner, 
und Dir fest vorzunebmen, das Jahr 1839 ein⸗ 
mal zur Probe ganz ohne Branntewein 
hinzubringen. Dann wirst Du sehen, daß 
Du am 1. Januar 1840 ein neuer Mensch sein 
wirst, und zur Belohnung Deiner Ausdauer sollst 
Du am selbigen Tage zum mindesten eine Ka⸗ 
rolin in Golde finden. I 
Zu dem Ende bast Du nur zweierlei zu thun, 
was von vielen verstaͤndigen Leuten in Hessen 
bereits erprobt worden ist, und regelmaͤßig sort⸗ 
gesetzt wird.
	        
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