Full text: Kurhessischer Kalender // Amtlicher Kalender für das Kurfürstenthum Hessen (1836-1845)

dadurch ihre beste Lebenskraft verlieren! O ihr 
gewissenlosen Eltern! Soll ich Euch sagen, wie 
es Euern dawien nach einigen Generationen 
gehen wird? Gerade wie den Eingeborenen von 
Nordamerika. Ihr kennt ja den großen Welt- 
theil Amerika! Tausende wandern jaͤhrlich dahin, 
und Tausendmaltausende finden noch immer Platz 
um fich anzubauen. Warum ist das unermeßlich⸗ 
Land wohl so menschenleer? Ist es fruͤher nie 
bewohnt gewesen? Allerdings! Vor anderthalb— 
hundert Jahren war es noch bevoͤlkert von einem 
Meere bis zum andern, und Hunderte von kraͤf— 
tigen Nationen hatten es unter sich vertheilt. 
Wollt ihr nun wissen wo die hingekommen find? 
Sie sind von der Erde vertilgt! Und zwar nich! 
etwa durch langjaͤhrige Kriege aufgerieben, oder 
im gemeinsamen Kampfe fuͤr Freiheit und Vater. 
land untergegangen, sondern sie sind — allm aͤ h⸗ 
lig durch den Branntewein vernichte 
worden. Die Brannteweinspest hat sie ergrif— 
fen, hat sie entnervt, hat sie zum Vieh erniedrig 
und zugleich geistig und koͤrperlich zu Grunde 
gerichtet. Sie haben von dem Lande ihrer Vaͤter 
ein Stuͤck nach dem andern fuͤr Branntewein 
verkauft, haben sich von Jahr zu Jahr enger zu— 
sammengedraͤngt, und schon sind so viele Natio— 
nen ganz untergegangen daß auf Strecken von 
hundert und hundert Meilen kein Eingeborener 
mehr zu sehen ist. Ebenso wird es Euern Fa— 
milien gehen, Ihr Brannteweintrinker! Ihr bringt 
Euch und die Euern um Hab' und Gut, ruinirt 
Euere Gesundheit und floͤßt schon Euern Kindern 
das boͤse Gift ein, durch welches sie alle Lusi 
und alle Kraft zur Arbeit verlieren, und dann 
geht Ihr insgesammt unter in Schmutz und Ar⸗ 
muth, in Schimpf und Schande, und die maͤßi— 
gen Familien, die jetzt Wasser trinken statt Brann⸗ 
teweins, die werden, ehe bundert Jahre vergehen, 
statt Euerer das Land besitzen. 
Ich habe drittens behauptet: der Brann— 
tewein verdirbt auch die Seele in 
die Hoͤlle. 
Ein jeder Rausch ist dem Geiste und Koͤrper 
nachtheilig, aber im Brannteweinsrausche liegt 
sogar etwas satanisches. Der Schnaps regt 
im Menschen alle schlechten Begierden und Lei— 
denschaften auf. Der in Schnaps Besoffene 
ist zaͤnkisch, boshaft, rachsuͤchtig und blut— 
gierig. Geht einmal in die Gefaͤngnisse wo 
Mord und Todtschlag, Gewalt und Nothzucht, 
und alle Arten von groben Verbrechen verbuͤßt 
werden, und erkundigt Euch, wer der Verfuͤhrer 
dieser Ungluͤcklichen gewesen ist? Man wird Euch 
sagen: der Branntewein. Fragt die Unter— 
suchungsrichter, und ihr werdet hoͤren, daß der 
Branntewein fast in allen Protokollen wo nicht 
als Anstifter und Urheber, doch gewiß als Theil— 
nehmer und Aufhetzer vorkommt. Alle uͤbrigen 
Mitschuldegen werden alsbald eingezogen, ver— 
urtheilt und eingesperrt; an diesem Erzverfuͤhrer 
hat sich aber leider noch kein Gericht vergreifen 
wollen! 
Eine gluͤckliche Ehe ist der Himmel auf Er—⸗ 
den; aber der Branntewein versteht es, die Ehe 
zur Hoͤlle zu machen. Hoͤrst du das Schimpfen 
in jenem Hause? Auf die Schdimpfworte folgen 
Stoͤße und Schlaͤge, das Fenster oͤffnet sich, und 
Toͤpfe, Glaͤser und Moͤbel stuͤrzen in Stuͤcken 
auf die Straße. Sind etwa Banditen in das 
Haus gerathen? O nein! Es ist der Hausvater; 
er kam eben taumelnd aus dem Wirthshause! 
Die Kinder verkrochen sich; die Mutter weinte 
und jammerte, und bat, er solle ihr fuͤr die 
Kinder wenigstens ein Stuͤckchen Brod lassen, 
wenn er auch das uͤbrige Geld durchaus ins 
Wirthshaus tragen wolle. Da kam der hoͤllische 
Geist des Brannteweins uͤber den Mann, er 
schaͤumte vor Wuth, schrie wie ein Besesfener 
und warf den naͤchsten Stuhl nach dem Kopfe 
der Frau, die glücklicherweise sich schnell aus 
dem Zimmer zu retten wußte. Nun mußten die 
Geraͤthschaften herhalten; mit eigner Hand schleu⸗ 
derte er Stuͤck vor Stuͤck in Truͤmmern zum 
Fenster hinaus. — Das ist das treue Bild der 
Battenliebe, der Kinderzucht und des haͤuslichen 
Gluͤckes der Brannteweintrinker; und ihre Zahl 
ist leider an jedem Orte Legion. 
Und nun behaupte ich sogar viertens: der 
Menschkann den Branntewein ganz 
entbehren, und wenn er sich auch 
schhon daran gewoͤhnt hat, kann er 
ihm doch ohne Weiteres entfagen 
und wird sich wohl dabeibefinden. 
Den Beweis davon liefere ich folgendermaßen: 
Die Bereitung des Brannteweins ist erst vor 
ungefaͤhr 300 Jahren erfunden, und blieb noch 
lange Jahre ein Apothekergeheimniß. Die Welt 
hat also sechsthalbtausend Jahre ohne Brannte— 
wein bestanden, und es wuͤrde jetzt gewiß viel 
besser in derselben aussehen, wenn diese Berei⸗ 
tung noch immer ein Apothekergeheimniß waͤre; 
denn eigentlich ist der Branntewein nur ein Arz⸗ 
neimittel und kein Nahrungsmittel, und wohl 
dem Manne, der ihn nur in seltenen Faͤllen als 
Arznei gebraucht. Von den bewunderungswuͤr⸗ 
digen Thaten und Unternehmungen, welche die 
alten Voͤlker ohne Brauntewein ausgefuͤbrt haben, 
will ich gar nicht reden, da die Werke unserer 
deutschen Vorfahren hinlaͤnglich beweisen, was 
man ohne Branntewein ausrichten kann. Die 
alten festen Mauern, die unvergaͤnglicher sind 
als der natuͤrliche Stein, sind aufgefuͤhrt wor⸗ 
den ehe es Branntewein gab; die fschoͤnsten 
und herrlichsten Kirchen in Deutschland, weiche
	        
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