Full text: Amtlicher Kalender für den Regierungsbezirk Cassel (1874-1884)

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Das Oelfieber. 
Der freundliche Kalenderleser kennt, wenn auch hoffentlich 
aur vom Hörensagen, das kalte Fieber, das gelbe Fieber, 
das Nervenfieber und so weiter, aber vom Oelfieber weiß 
er nichts. Und eben darum soll hier davon erzält werden. 
In verschledenen Gegenden der Erde quellen aus der 
Tiefe Brunnen von Oel, das wahrscheinlich aus stark erhitzten 
Lagerungen von Steinkohlen und Braunkohlen stammt. 
Nirgends fließen diese Quellen reichlicher als in Nordamerika, 
besonders in Pennshylvanien, Virginien und Kanada. Den 
Indignern waren dieselben längst bekannt, ehe ihnen der 
heimische Boden von den eindringenden Europäern streitig 
gemacht und entrißen wurde. Aber die Rothäute wußten 
nichts davon, daß in diesen Oelquellen unermeßlicher Wert 
verborgen sei; sie benutzten das Erdöl als Heilmitiel gegen 
steife Gelenke und rheumatische Gliederschmerzen und ließen 
harmlos den Ueberfluß in den Eriesee abfließen. 
Erst lange nachdem in neuerer Zeit die Entdeckung ge— 
macht war, daß aus Stein- und Braunkohlen flüßige und 
feste Stoffe zur Beleuchtung zu gewinnen seien, erkannte 
man, daß das aus der Erde quellende natürliche Oel für 
denselben Zweck mit weit geringeren Kosten verwendet werden 
könne. Nun wandte sich die Aufmerksamkeit auch jenen 
Erdolbrunnen zu, und die Nordamerikaner stürzten sich mit 
der ihnen, wo es gilt Geld zu erwerben, eigenen Hasiigkeit 
auf die Ausbeutung der lange vernachläßigten Ouellen. 
Zuerst geschah das im Jahre 1857 in Penusylvanien nördlich 
von Pittsburg. Ueberall dort und bald auch in andern Teilen 
jener Gegend wurde der Erdbohrer in Bewegung gesetzt, 
und nach kurzer Mühe entströmte das Oel in solcher Fülle 
dem Schoße der Erde, daß man große Not hatte, biese 
Ströme zu bewältigen. Mit Windeseile verbreitete sich die 
Kunde von der wichtigen Entdeckung durch Nordamerika, 
und wie einst die Nachricht von den aufgefundenen Gold— 
minen in Californien die Köpfe der mammonsüchtigen Leute 
derdreht hatte, so bemächtigte sich jetzt ihrer die Leidenschaft 
für Erdöl (Petroleum). Tausende strömten in die plötzlich 
berümt gewordenen Gegenden. Das „Oelfieber“' wirkte 
ansteckender als die Cholera. 
Den größten Vorteil bei dieser allgemeinen Krankheit 
batten nicht die Aerzte und Apotheker, sondern die Grundeigen— 
ümer in den Oelgegenden, Da, nachdem die fließenden 
Quellen erschöpft waren, Niemand zu den Quellen gelangen 
konnte, ohne durch den Boden zu bohren, stieg der Preis der 
Hrundstücke dort zu fabelhafter Höhe. In der Graffchaft 
Venango in Pennshylvanien wurde schon im Jahre 1859 ein 
Acker Landes, der kurz vorher wenige Dollars gekostet batle, 
mit tausend Dollars bezahlt, wobei sich der Verkäufer noch 
einen Gewinnanteil an dem Oele vorbehielt. Wie durch 
Zauber veränderte sich die Gestalt der Oelbezirke. Ehedem 
hatte man dort nur einzelne ärmliche Farmen angetroffen, 
und die einzigen Fremden, die sich dorthin verirrten, waren 
Holzfäller gewesen, die ihre Flößen den Alleghanyfluß berab— 
treiben ließen. Nun entfaltete sich in der einst so stillen 
GBegend ein Leben änlich dem auf den californischen Gold— 
feldern, cin leidenschaftlich wildes Leben. Ueberall sah man 
Zimmerleute tätig, um Hütten, Schuppen und Niederlagen 
zu errichten, und binnen wenigen Jahren waren in der vor— 
herigen Einöde Städte und Dörfer emporgeschoßen. Das 
waren die Lazarethe, in denen die vom „Oelfieber“ Be— 
fallenen bausten. 
Damals war, in den Petroleumsbezirken der jäheste 
Wechsel zwischen Armut und Reichtum, Reschtum und Armut 
in der Tagesordnung. Blutarme Teufel wurden über Nad 
»ermögende Herren, wolhabende Leute sahen sich im Hand 
imdrehen um die Früchte jahrelangen Schweißes gebracht 
Denn gar mancher Oelfieberkranke wendete seine gesammte 
Ersparniße an den Erwerb eines Grundstücks und die Er 
bohrung einer Quelle, der bald darauf verzweifelnd, mi 
Nichts im Besitz als seiner Arbeitskraft, weiter ziehen, ode 
in den Oelgegenden sein Brod als einfacher Tagelöner ver 
dienen mußte, wärend einzelne andere aus früher fast wen 
losen Grundstücken Hunderttausende von Dollars lösten. 
Einer von den Letzteren, der wie im Märchen plötzlit 
aus Not und Dürftigkeit zu Reichtum und Besitz kam, wa 
Thomas Shaw. Der hatte auf ein Grundstück in de 
Nähe des pennsylvanischen Städichens Victoria manchen 
angen Monat hindurch seine ganze Hoffnung und all' seint 
dabe gesetzt. In der Gluthitze und dem Schüttelfrost det 
Delfiebers grub er einen Brunnen aus; aber die erfehnk 
Quelle wollte nicht hervorbrechen. Die Brunnen seing 
Nachbarn floßen von Reichtum über; nur er allein erhieh 
einen Teil an dem Petroleumstrom. Gegen Mitte Janua 
1862 war Thomas Shaw ein ruinirter Mann. Verspotte! 
von glücklicheren herzlosen Nebenbuhlern, in zerlunpter 
Kleidern mit leeren Taschen trieb er sein fruchtloses Tagewer'“ 
Eines Tages im Januar sah Thomas Shaw sich auße 
Stande weiter zu arbeiten, da seine Schuhe vollständi, 
zerrißen waren, und er nicht in der Nässe und Kälte barfru) 
ju stehen vermochte. Mit verzagtem Herzen begab er sit 
n einen benachbarten Verkaufsladen und bat um ein Paa 
Schuhe auf Borg. Die Bitte wurde ihm unsanft abge 
chlagen. Niedergebeugt von Kummer und Sorgen kebrtt 
er zu seinem trocknen Brunnen zurück. Noch einen Ta 
hatte er beschlossen zu arbeiten, dann aber, wenn es abel 
mnals vergeblich gewesen sei, den Wanderstab zu nebme 
uind anderswo Brod zu suchen. Mismutig hob er de— 
Bohrer empor und stieß ihn mit zorniger Gewalt auf de 
Felsgrund nieder. Da, borch! was ist das für ein Geräusch 
Es quillt Etwas rieselnd und zischend aus der Tiefe empo 
mit unwiderstehlicher Gewalt. Das Rohr der Pumpe full 
ich mit Oel, fünf, zehn, fünfzehn Minuten vergehen — di 
st der Brunnen bis zum Rande voll. Das Oel fließt übet 
es füllt einen Behälter; es fließt über den Behälter; all 
Bewühungen es zu faßen sind vergeblich. 
Ob er lachen oder weinen sollte, war für Thomas Shat 
'n diesem Augenblick eine sehr zweifelhafte Frage. Jedoch 
vraktisch, wie die Amerikaner sind, hielt er sich nicht lang 
»ei Gefülen auf, sondern breilte sich, seinen unverhoffte 
Reichtum zu sichern. Die Nachricht von der überfließende 
Delquelle verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter den An 
iedlern. Nun war der verachtete Thomas plötzlich de 
Begenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit und Höflichkeil 
Noch an diesem Morgen hatte man ihn kurzweg „old Shaw 
den alten Shaw) genannt; jetzt hieß er mit Einem Mal 
„Mister (Herr) Shaw“. Er wurde von den guten Nachbarn 
mit Glückwünschen überschüttet; auch der Kaufmann, der 
om vor einer Stunde die Schuhe verweigert hatte, kan 
sehr eilig berbei und: „Mein lieber Herr Shaw“ sagte er 
„mein Laden steht mit allem, was drin ist, Ihrem Credi 
zur Verfügung“. 
Der, Brunnen floß und floß in unendlicher Ergiebigkeit 
Nach einiger Zett berechnete Thomas Shaw, daß deiselbe 
bin ungefär 89 Gallonen (über 360 Liter) in je 14 Minuten 
ieferte. Das betrug etwa 28Silbergroschen in der Minutt, 
29 Dollars in der Stunde, 9500 Dollars für einen Tag 
396,524 TDollars im Jahre, die Sonntage nicht mitgerechnet 
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