Full text: Amtlicher Kalender für den Regierungsbezirk Cassel (1874-1884)

Heinrich und Mariechen 
hatten sich wol anfangs gefreut, als ich ihnen vorlas, 
was ich von ihnen im Kalender erzählt hatte. Als ich 
aber nun von ihnen Auskunft darüber verlangte, wie 
es ihnen in den folgenden Jahren ergangen, da wurden 
sie stutzig, und Mariechen rief aus: „Nicht wahr, das 
soll auch wieder in den Kalender! Da käme mir der 
Gevatter aber gerade recht, der hat uns Frauen so 
schlecht gemacht, daß ich ihm ordeutlich böse bin, und 
von mir erfährt er kein Sterbenswörtchen inehr!“ Heinrich 
gaudirte sich über den Zorn seines sonst so guten Fraͤuchens, 
aber er wollte auch nicht mit der Farbe heraus. Als 
jedoch Mariechen einmal den Rücken wandte, sagte er 
mir: „Gevatter, geht nur in die Pfarre, die wissen 
Alles haarklein und erzählen's Euch geru, denn sie 
freuen sich von Herzen darüber, daß es uns gut geht 
und das Ansehen hat, als wenn's uns auch ferner gut 
gehen sollte“. 
Ich folgte seinem Rathe und erfuhr dann von dem 
lieben Paare sehr schöne Sachen, die ich vielleicht ein 
andermal erzähle; diesmal aber nicht; denn es wäre 
möglich, daß mir Mariechen gründlich böse würde, und 
das thäte mir leid; und in der Pfarre erfuhr ich auch, 
was die beiden für das nächste Jahr im Schilde führen, 
und vielleicht macht's ihnen der eine oder der andere 
Kalenderleser nach. — Der Pfarrer erzählte also: 
Heinrich und Mariechen haben gar keinen Gefallen 
an den Vereinen und den damit verbundenen Jahresfesten 
finden können. Sie haben sich und ihre Kinder, ver— 
bunden mit einigen stillen und ordentlichen Familien, 
still in ihrem Hause gehalten; die Familienfeste aber, 
die Geburtstage der Eltern, Kinder und Freunde werden 
im häuslichen Kreise gefeiert. Das Festgericht sind 
Kaffee und Knippkuchen, oder, wie man in der Stadt 
spricht, Waffeln. Ich darf bei diesen Festen nicht fehlen 
und muß dann mitfeiern. Alt und Jung singt Lieder, 
und ich muß zwischendurch erzählen. Aus diesen Er— 
zählungen hat der älteste Sohn von Heinrich und Mariechen 
sich Manches aufgeschrieben und die Jahre her so eine 
Art Festkalender gemacht. Da finden Sie nach den 
Monaten geordnet folgende Gedenktage: 
Januar 2. 1861 Thronbesteigung unseres Königs, 
7. 785 Wittekind, Herzog der Sachsen, 
getauft, 
1873 Napoleon III. stirbt, 
0o. 1871 Proclamation des Deutschen Kaisers 
zu Versailles, 
und so weiter durch's ganze Jahr. Da sich die Leutchen 
nun fühlen, so wollen sie im Jahre 1883 folgende Tage 
— außer den Familienfesten — auch feiern. Zunächst 
am 25. Jannar die silberne Hochzeit unseres Kron⸗ 
prinzen, den Mariechen ganz in ihr Herz geschlossen, 
da er ihr einmal am Bahnhofe ein Sträußchen abge— 
nommen und sie so freundlich angeschaut hat. 
Da soll's hoch hergehn, und diesmal soll Mariechens 
Sohn etwas erzählen, die älteste Töchter aber ein 
chönes Lied herfagen. — 
In dem Kalender steht ferner 
Mai 1. 1283 Einweihung der Elisabeth-Kirche zu 
Marburg, und wenn's paßt, geht wenigstens Mariechen 
nach Marburg, wo sie Verwandte hat und längst der 
kinladung dorthin hätte folgen müssen. 600 Jahre 
teht nun die Kirche, und ist an dem wunderbaren Bau, 
dem schönsten in Hessen, von wenigen in Deutschland 
ibertroffen, auch noch kein Unthätchen zu sehen, sie 
ieht aus, als wäre sie erst gestern fertig geworden. 
Unmöglich kann ich Ihnen dies ganze Verzeichniß 
geben, welches bei uns „Hessischer Denkzettel“ heiß! 
und an jedem Sonntag Abend vorgenommen wird, um 
zu sehen, welche Tage in der folgenden Woche wichtig 
ind. Ich will Ihnen nur hin und wieder etwas nennen 
Januar 28. 814 stirbt Karl der Große, 
Februar 18. 1546 Todestag Dr. Martin Luthers, 
März 10. 1776 Geburtstag der Königin Luise, 
— 22. 1797 Geburtstag des Kaisers Wilhelm, 
Mai 10. 1871 Friede zwischen Deutschland und 
Frankreich zu Frankfurt a. M., 
Juni 7. 1840 Todestag Friedrich Wilhelms III., 
Juli 19. 1810 Todestag der Königin Luise, 
August 18. 1870 Schlacht bei Gravelotte, 
September 2. 1870 Schlacht bei Sedan, 
— 3. 1783 Friede zu Paris, Rückkehr der 
Hessischen Truppen aus Amerika, 
October 18. 1813 Völkerschlacht bei Leipzig, 
— 138. 1831 Geburtstag des Kronprinzen, 
November 10. 1483 Geburistag Luthers,“) 
December 19. 1594 Geburtstag Königs Gustar 
Adolph. 
Aber fast an jeden geschichtlich wichtigen Tag erinner! 
unser Denkzettel. 
Dieser Denkzettel ist für Mariechen neben Bibel, 
Gesangbuch und Katechismus das Hauptstück in ihrer 
Kindererziehung. Und auffallend ist, daß die Kinder 
die 366 Tage und was an denselben Merkwürdiges 
geschah, vollständig im Kopfe haben. Wenn einmal 
in der Familie etwas vorkommt, fragt Mariechen in 
der Regel: „Was für einen Tag haben wir heute und 
was begab sich damals?“ Daran weiß sie dann mit 
zroßem Geschick Strafe, Ermahnung, Ermunterung und 
Trost zu knüpfen. Doch genug. 
Nun, liebes Mariechen, nichts für ungut, daß ich 
doch so ein Bißchen aus der Schule geschwatzt habe. 
Wenn ich zu Euch komme an einem der Festtage, dann 
söhnen wir uns ganz aus. Gott befohlen! 
*) Gern wüßten wir auch den 
welcher 683 geboren wurde. 
Geburtstag von Bonifacius
	        
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