Heinrich und Mariechen
hatten sich wol anfangs gefreut, als ich ihnen vorlas,
was ich von ihnen im Kalender erzählt hatte. Als ich
aber nun von ihnen Auskunft darüber verlangte, wie
es ihnen in den folgenden Jahren ergangen, da wurden
sie stutzig, und Mariechen rief aus: „Nicht wahr, das
soll auch wieder in den Kalender! Da käme mir der
Gevatter aber gerade recht, der hat uns Frauen so
schlecht gemacht, daß ich ihm ordeutlich böse bin, und
von mir erfährt er kein Sterbenswörtchen inehr!“ Heinrich
gaudirte sich über den Zorn seines sonst so guten Fraͤuchens,
aber er wollte auch nicht mit der Farbe heraus. Als
jedoch Mariechen einmal den Rücken wandte, sagte er
mir: „Gevatter, geht nur in die Pfarre, die wissen
Alles haarklein und erzählen's Euch geru, denn sie
freuen sich von Herzen darüber, daß es uns gut geht
und das Ansehen hat, als wenn's uns auch ferner gut
gehen sollte“.
Ich folgte seinem Rathe und erfuhr dann von dem
lieben Paare sehr schöne Sachen, die ich vielleicht ein
andermal erzähle; diesmal aber nicht; denn es wäre
möglich, daß mir Mariechen gründlich böse würde, und
das thäte mir leid; und in der Pfarre erfuhr ich auch,
was die beiden für das nächste Jahr im Schilde führen,
und vielleicht macht's ihnen der eine oder der andere
Kalenderleser nach. — Der Pfarrer erzählte also:
Heinrich und Mariechen haben gar keinen Gefallen
an den Vereinen und den damit verbundenen Jahresfesten
finden können. Sie haben sich und ihre Kinder, ver—
bunden mit einigen stillen und ordentlichen Familien,
still in ihrem Hause gehalten; die Familienfeste aber,
die Geburtstage der Eltern, Kinder und Freunde werden
im häuslichen Kreise gefeiert. Das Festgericht sind
Kaffee und Knippkuchen, oder, wie man in der Stadt
spricht, Waffeln. Ich darf bei diesen Festen nicht fehlen
und muß dann mitfeiern. Alt und Jung singt Lieder,
und ich muß zwischendurch erzählen. Aus diesen Er—
zählungen hat der älteste Sohn von Heinrich und Mariechen
sich Manches aufgeschrieben und die Jahre her so eine
Art Festkalender gemacht. Da finden Sie nach den
Monaten geordnet folgende Gedenktage:
Januar 2. 1861 Thronbesteigung unseres Königs,
7. 785 Wittekind, Herzog der Sachsen,
getauft,
1873 Napoleon III. stirbt,
0o. 1871 Proclamation des Deutschen Kaisers
zu Versailles,
und so weiter durch's ganze Jahr. Da sich die Leutchen
nun fühlen, so wollen sie im Jahre 1883 folgende Tage
— außer den Familienfesten — auch feiern. Zunächst
am 25. Jannar die silberne Hochzeit unseres Kron⸗
prinzen, den Mariechen ganz in ihr Herz geschlossen,
da er ihr einmal am Bahnhofe ein Sträußchen abge—
nommen und sie so freundlich angeschaut hat.
Da soll's hoch hergehn, und diesmal soll Mariechens
Sohn etwas erzählen, die älteste Töchter aber ein
chönes Lied herfagen. —
In dem Kalender steht ferner
Mai 1. 1283 Einweihung der Elisabeth-Kirche zu
Marburg, und wenn's paßt, geht wenigstens Mariechen
nach Marburg, wo sie Verwandte hat und längst der
kinladung dorthin hätte folgen müssen. 600 Jahre
teht nun die Kirche, und ist an dem wunderbaren Bau,
dem schönsten in Hessen, von wenigen in Deutschland
ibertroffen, auch noch kein Unthätchen zu sehen, sie
ieht aus, als wäre sie erst gestern fertig geworden.
Unmöglich kann ich Ihnen dies ganze Verzeichniß
geben, welches bei uns „Hessischer Denkzettel“ heiß!
und an jedem Sonntag Abend vorgenommen wird, um
zu sehen, welche Tage in der folgenden Woche wichtig
ind. Ich will Ihnen nur hin und wieder etwas nennen
Januar 28. 814 stirbt Karl der Große,
Februar 18. 1546 Todestag Dr. Martin Luthers,
März 10. 1776 Geburtstag der Königin Luise,
— 22. 1797 Geburtstag des Kaisers Wilhelm,
Mai 10. 1871 Friede zwischen Deutschland und
Frankreich zu Frankfurt a. M.,
Juni 7. 1840 Todestag Friedrich Wilhelms III.,
Juli 19. 1810 Todestag der Königin Luise,
August 18. 1870 Schlacht bei Gravelotte,
September 2. 1870 Schlacht bei Sedan,
— 3. 1783 Friede zu Paris, Rückkehr der
Hessischen Truppen aus Amerika,
October 18. 1813 Völkerschlacht bei Leipzig,
— 138. 1831 Geburtstag des Kronprinzen,
November 10. 1483 Geburistag Luthers,“)
December 19. 1594 Geburtstag Königs Gustar
Adolph.
Aber fast an jeden geschichtlich wichtigen Tag erinner!
unser Denkzettel.
Dieser Denkzettel ist für Mariechen neben Bibel,
Gesangbuch und Katechismus das Hauptstück in ihrer
Kindererziehung. Und auffallend ist, daß die Kinder
die 366 Tage und was an denselben Merkwürdiges
geschah, vollständig im Kopfe haben. Wenn einmal
in der Familie etwas vorkommt, fragt Mariechen in
der Regel: „Was für einen Tag haben wir heute und
was begab sich damals?“ Daran weiß sie dann mit
zroßem Geschick Strafe, Ermahnung, Ermunterung und
Trost zu knüpfen. Doch genug.
Nun, liebes Mariechen, nichts für ungut, daß ich
doch so ein Bißchen aus der Schule geschwatzt habe.
Wenn ich zu Euch komme an einem der Festtage, dann
söhnen wir uns ganz aus. Gott befohlen!
*) Gern wüßten wir auch den
welcher 683 geboren wurde.
Geburtstag von Bonifacius