Full text: Amtlicher Kalender für den Regierungsbezirk Cassel (1874-1884)

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ie veranlaßte also schon nach wenig Tagen das Mädchen, 
Abends seine Bibel und sein Andachtsbuch mit in die 
Wohnstube zu bringen und wenn man sich zum Schlafen— 
zehen anschickte, ein Kapitel und ein Gebet zu lesen. 
Jetzt erfuhr sie, wie ihr Mann sich vor ihr gescheut 
hatte, gerade wie sie vor ihm, zu thun, was auch in 
seinem Vaterhause liebe Sitte gewesen war. Er dankte 
seiner Frau und namentlich Lenchen, denn jetzt erst 
ernten die beiden Eheleute, was ein rechtes herzlich 
brünstiges Gebet ist und vermag, jetzt erfuhren sie, daß 
sie zuvor nur aus Gewohnheit, nicht im Namen Jesu 
gebetet, also gar nicht gebetet hatten. Der Rath be— 
kannte dem Herrn im Kämmerlein, daß er seine Augen 
nißbraucht habe, und daß ihm jetzt das rechte Licht, 
auch das rechte Herz gegeben worden sei. Das dankte 
er Gott, daneben aber auch dem lieben Pflegekind. 
Aber die Augen wollten nicht genesen, um so besser, 
daß das Herz genesen war; denn so trug er das äußere 
Leid still und ergeben; er ertrug's, daß er genöthigt 
wurde, aus dem Amte zu scheiden. Besondere Umstände 
veranlaßten ihn, seinen Wohnsitz in Wiesbaden zu nehmen, 
und Lenchen war nicht zweifelhaft, mit ihren lieben 
pPflegeeltern dorthin zu ziehen, da auch Vetter Michel 
einwilligte. 
Kaum aber war die Familie in Wiesbaden ein Jahr 
vohnhaft und eingelebt, da brach im Jahr 1870 der 
rieg aus, und auch über Wiesbaden sollten die Regimenter 
ihren Weg nach dem Kriegsschauplatz nehmen. Der 
Rath, der keinen Sohn hatte, beschloß, täglich an den 
Bahnhof zu gehn und der Gelegenheit zu warten, wie 
er Erquickung spenden könne denen, die zum Kampfe 
zogen, und bereitete Alles vor, namentlich schaffte er 
sich einen großen Vorrath von Wein an, denn der war 
sicherlich Allen erwünscht und leicht verabfolgt. — 
Aber noch ehe es dazu kam, wurde er von einem 
Freunde in Anspruch genommen. Der hatte einen Sohn, 
welcher in Marburg studirte und als Freiwilliger mit 
in den Krieg wollte. Nun hatte er die Nachricht er⸗ 
yalten, daß das Jägerbataillon sofort nach Wiesbaden 
berlegt und dort eine Compagnie, namentlich für die 
Aufnahme Freiwilliger, welche studirt, gebildet werden 
sollte. Da der Sohn nicht erst in den fernen Norden 
seiner Heimath reisen konnte, so bat der Freund, der 
Rath möge ihn in Wiesbaden aufsuchen, ihm den väter⸗ 
lichen Segen überbringen und das nöthige Geld vor— 
schießen. Der Rath machte sich sofort auf, um den 
hm Befohlenen aufzusuchen und kam gerade an, als 
die Jäger auf dem Bahnhofe anlangten. Lenchen be— 
gleitete ihn mit einem Korbe Wein. 
Aber was war denn mit dem Mädchen? Es stand 
da leichenblaß und zitternd, den Korb hatte es abgesetzt, 
'onst hätte es ihn fallen lassen. Der Rath sah es an 
ind wußte nicht, was passirt war, aber er sollte es 
»ald erfahren. Einer der Jäger, ein gar schmucker 
rüngling, trat auf Lenchen zu und bot ihm die Hand, 
ind als es zu wanken begann, fing er's auf in seinen 
Armen und rief jubelnd: „Lenchen, mein liebes Lenchen!“ 
Ind Lenchen, Alles vergessend, schlang seine Arme um den 
Hals des Jägers und rief: „Hanjost, mein lieber Hanjost!⸗ 
Eben trat der Hauptmann Schimmelpfeng, dem Rath 
chon früher befreundet, zu demselben und wies lächelnd 
zuf das Paar und sprach: „Nun, das fängt ja gut an!“ 
In Marburg erst herzzerreißende Abschiede und hier 
zine so schöne Begrüßung! Wahrscheinlich ein Borue— 
elder Kind.“ 
Der Schluß der Verhandlungen war, daß der Hanjost, 
velchen der Hauptmann sehr lobte als einen seiner 
zesten Leute, Erlaubniß erhielt, zu Raths zu kommen, 
o 'oft es sein Dienst erlaubte. Wolweislich hatten aber 
ie beiden Männer den Bornefelder Kindern nichts 
avon gesagt, hatten vielmehr der Frau Räthin die 
zntscheidung überlassen. Die nahm Lenchen in die 
Beichte. Und wenn die auch noch so kurz war, es 
lieb ihr doch nicht verschwiegen, wie Vetter Michel 
ind Frau Elise zu einander standen; deshalb wurde 
»er Verkehr der beiden jungen Leute auf ein sehr knappes 
Maß beschränkt und nur in der Gegenwart der Frau 
näthin gestattet. — Wie das den Beiden gefiel, kann 
nan sich wol denken; aber sie gehorchten, und es war 
hnen auch schon genug, wenn sie nur zuweilen sich 
ehen und sprechen konnten, und wenn auch die Frau 
sdäthin dabei war, ein Jedes sah und fühlte, wie lieb 
ie sich hatten und wie rein und treu ihre Liebe war. 
Doch die Zeit verging rasch, das Bataillon zog hinaus, 
iber den Rhein hinauf an die Nahe, und gleich an der 
ersten Schlacht nahm es ruhmvollen Antheil am Siege 
ind erlitt große Verluste an Todten und Verwundeten. 
Am 8. August war Rath Müller wieder am Bahn— 
sofe. Aber diesmal kamen keine Soldaten; es kamen 
ber unsere lieben frommen Diakonissinnen aus Treysa, 
velche das Lazareth in Biebrich uͤbernehmen solllen. 
Fast noch herzlicher als die Krieger wurden diese helden— 
aüthigen Mädchen empfangen und ihnen noch freudiger 
zrfrischingen dargeboten. Aber diese Streiterinnen 
chienen weder ermattet von der Reise noch der Speise 
ind des Trankes bedürftig, sie verlangten nur den 
hweren Dienst, den sie übernommen, sobald als möglich 
inzutreten. 
Nur eine der Schwestern war leidend und der Er— 
volung bedürftig, und die Frau Räthin Müller, die 
eute ausnahmsweise mit zum Bahnhofe gegangen war, 
rklärte sich schnell bereit, die Erkrankte in ihre Wohnung 
ufzunehmen, bis sie genesen ihren Dienst im nahen 
Biebrich wieder versehen könne. 
In der Familie des Raths war natürlich seit der 
driegserklärung eigentlich von nichts als dem die Rede— 
vas sich auf den Krieg bezog, und seit der Schlacht 
on Spichern um so mehr, als man wußte, daß die 
zäger dabei betheiligt gewesen waren. Die Frauen 
ber wurden um so leidenschaftlicher, je mehr ihr Herz 
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