Full text: Amtlicher Kalender für den Regierungsbezirk Cassel (1874-1884)

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ẽr brachte ihm also eine Stange Bier und war 
darauf gefaßt zu hören: eine Halbe! Michel nahm 
zas Bier, stellte es aber unberührt auf den Tisch und 
ief: „Hast Du keine Ohren? Ich habe eine Stange 
Zranntwein bestellt, nachher kommt das Bier“. Und 
virklich als nun Kurt den Branntwein brachte, stürzte 
Michel in zwei Zügen die ganze Masse hinab; dann 
riff er nach dem Biere; — aber er trank's nicht; 
enn der starke Mann that einen schweren Fall und 
hlug mit Arm und Beinen um sich, daß Allen bange 
urde, und Jedermann der Spaß verging. Man sprang 
u und trug den Besinnungslosen, als seine Wuth ver⸗ 
aucht war, heim in sein Bett, seiner verwitweten 
Z„chwester die Sorge um ihn überlassend. 
Michel lag zwei Tage lang einem Todten gleich; dann 
tand er auf, rasirte sich, zog seinen Sonntagsrock an 
ind ging in die Pfarre. Was da verhandelt worden, 
jat man nicht erfahren; aber daß da viel zur Sprache 
zekommen war, stand fest. 
Auf der Studirstube hatten die beiden Nachtwächter 
ßoppenhäger und Butte das Licht brennen sehen bis 
ange nach Mitternacht, und als Michel endlich heim⸗ 
ehrte, fand er noch keine Ruhe; bis an den Morgen 
sing er in seiner Stube auf und ab, sprach vor sich 
in und seufzte, und ein paarmal meinte ihn die Schwester 
uch schluchzen zu hören. Von dem Tage an war Michel 
ein umgewandelt. Das erfuhr zunächst seine Schwester 
ind deren Tochter. Bisher hatte ihm nichts recht gemacht 
»erden können; jetzt war er mit Allem zufrieden; sonst 
halt er oft, jetzt nie; früher machte er in der Regel 
in Gesicht, daß die Milch auf dem Tisch sauer davon 
purde; jetzt war er lammfromm, und, was nie geschahe, 
r hatte seiner Schwester die Hand gegeben und dem 
enchen, ihrem einzigen Kinde, die Hand auf den Kopf 
elegt, sie mit Thraͤnen angesehn und gesagt: „Bleibe 
in Kind Gottes; bete für mich und laß mich dein 
dater sein“. 
Und dem gleich gestaltete sich sein ganzes Leben; der 
Zonntag war ein Festtag für ihn, während er ihn sonst 
u seinen Gängen und Händeln benutzt hatte, studirte 
r täglich in der Schrift, so war sie Sonntags Morgens 
zine einzige Beschäftigung; dann ging er zweimal zur 
irche, und nach derselben sprach er mit der Schwester 
nd Lenchen über die gehörte Predigt, ging mit ihnen 
inaus in's Feld, in den Wald oder einmal über Feld. 
ind bald zeigte sich in der Gemeinde, daß das Wort 
»ahr bleibt: „wie's in den Wald schalt, so schalt's 
urück“; wenn Michel freundlich grüßte, so wurde er 
oieder mit Liebe behandelt, wenn er wo einsprach, so 
ieß man ihn herzlich willkommen; beim Wagner Braun⸗ 
ahn und bei'm Schmied Bischoff hörte man ihm gern 
u; denn er sprach nicht mehr so abgebrochen und 
äthselhaft wie sonst, sondern klar und verftändlich, 
ind was er sprach, war nützlich und oft erbaulich. 
Sehr häufig aber verkehrte er in der Pfarre, und als 
der Pfarrer davon sprach, eine kleine Büchersammlung 
anzuschaffen, da bat ihn Michel, die geeigneten Bücher 
zu kaufen, — das Geld dazu aber von ihm anzunehmen. 
Michel, früher eine Drohne, war eine fleißige Biene 
in der Bornefelder Gemeinde geworden, und man achtete 
ihn allgemein. 
Die Drei aber, Michel, Christine, seine verwitwete 
Schwester, und Lenchen, ihre Tochter, führten ein Leben, 
vie man sich's lieblicher nicht denken kann, und hatten 
seinen sehnlicheren Wunsch, daß es so bleiben möge. Wie 
dergeblich der aber so häufig ist, mußten auch sie er⸗ 
fahren; denn gerade an dem Tage, da Lenchen 17 Jahre 
alt wurde, erkrankte Christine an Lungenentzündung, die 
hrem Leben rasch ein Ende machte und die beiden, 
Michel und Lenchen, in tiefe Trauer versetzte. — 
Michel trug am schwersten den Verlust; denn er 
war allein übrig geblieben von seinen Geschwistern, 
deren sämmtliche Kinder schon vor ihren Eltern ge— 
torben waren; Lenchen war sein einziger Trost und 
ein recht großer Trost. Sie hatte den Schmerz um 
ihre Mutter wohl ebenso tief empfunden als Michel; 
aber ihre Jugend, ihr resoluter Sinn, die Arbeit in 
Haus und Feld, ihr freudiger Christenglaube und der 
Gedanke, für den vereinsamten Vetter um so mehr leben 
zu müssen, halfen ihr zu der frühern Heiterkeit, und 
diese erfreute und erfrischte den alternden Michel täglich. 
Er meinte, nach den Stürmen, die er durchgemacht, 
wverde nun sein Leben ruhig hinfließen, wie der Bach 
bei Bornefeld. Aber auch diese Hoffnung sollte einst— 
weilen noch eine eitle sein. Es war noch nicht Alles klar 
n seinem Gemüte, und was dunkel und ihm selbst ver— 
borgen auf dem Grunde lag, sollte auch noch ausgefegt 
verden durch nene Stürme. 
Er hatte nie daran gedacht, daß Lenchen ihn ver— 
assen könne, und wenn einmal ein solcher Gedanke von 
Ferne gekommen, so hatte er ihn gewaltsam unterdrückt. 
And doch sollte es dazu kommen; einstweilen fielen 
jedoch nur die Schatten davon erkältend in sein Leben. 
Es war „Ausnahme«“ gewesen. Jetzt heißts „Ersatz⸗ 
zeschäftu. Auch die Bornefelder Burschen, eine statt⸗— 
iche Schaar, hatten sich stellen müssen und hatten die 
Freude und die Ehre gehabt, daß alle ohne Ausnahme 
genommen“ worden waren. 
Die Freude und der Ruhm! das klingt fast un— 
zlaublich, denn sonst freut man sich ja, wenn man 
„loskommt“. In Bornefeld war's anders. Bornefeld 
var ein Soldatendorf, wie kaum ein anderes; eine 
Reklamation⸗ selbst von Witwen, kam selten vor; 
auglich waren die meisten, wurde einer nicht „genommen“, 
so war das ein Schimpf. Diejenigen aber, welche 
genommen wurden, galten für ehrenhafter. Sobald 
s irgend thunlich, nahm der Soldat Gewordene Ur⸗ 
laub, und wenn's nur ein Sonntag sein konnte; denn 
dann durfte er in der Kirche den Ehrenplatz, der Kanzel 
gegenüber, auf der Borläube einnehmen, nach dem er 
n11 ——Vu
	        
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