Full text: Amtlicher Kalender für den Regierungsbezirk Cassel (1874-1884)

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Denn rasch, wie der Gedanke, war der Rittmeister herbei— 
zesprengt, hatte im Fluge den Kleinen bei einem Arme erfaßt 
und vor sich auf den Sattel gehoben. Wie das Alles geschah, 
konnte sich Niemand recht erklären, nicht einmal der Rittmeister 
selbst; freilich war er tin Reiter, wie solche selten sind. 
Als er dann den Kleinen vor sich auf dem Pferde zurecht— 
setzte und das krauslockige Köpfchen an sich drückte, leuüchteten 
seine Augen und wurden ganz feucht; er schien zufrieden, 
als ob er ein Königreich erobert hätte. Die ganze Schwadron 
jauchzte ihm zu; ein Hurrah erscholl, und fort gieng es mit 
geschwungenem Säbel gegen die Franzosen. Es kam zu 
einem blutigen Zusammenstoße und begann eine schwere 
blutige Arbeit. Eine Stunde später wurde diese Schwadron 
durch Kürassiere abgelöst und durfte ihren Marsch in's Bivouak 
antreten. Freilich fehlte so Mancher, der vor kurzer Zeit 
noch frisch und wohlgemuth mit ausgezogen war. 
Nachdem einige, dem Andenken dieser gefallenen Helden 
geweihte Augenblicke verstrichen waren, erinnerte man sich 
auch des Knaben, und unter dem Vorwand einer gleichgiltigen 
Meldung beschloß ein Mann, zu dem Riltmeister vorzureiten, 
um sich zur Befriedigung der eigenen und der Kameraden 
Neugier nähere Keuntniß über das Befinden des Knaben 
zu verschaffen. Loch war die Meldung vergessen bei dem 
sich darbietenden traurigen Anblicke; — der Knabe ließ den 
Kopf und die Glieder schwer hängen; — er war todt! — 
Der Rittmeister war leichenblaß und schaute unverwandten 
Blickes seinen armen Schützling an, den er noch immerfort 
vor sich im Arme hielt; man sah deutlich, daß er nur mit 
Anstrengung die Thränen zurückhielt. — Als die Schwadron 
das Bivsouak bezog, drängte sich alles um die Leiche des 
Kleinen. Sonderbar! Diese Männer hatten doch so viele 
liebe Kameraden zu betrauern, und doch erregte dieser kleine 
HNnabe die allgemeine Theilnahme in ganz besonderem Maße. 
Mehr oder weniger erachtet es der Soldat als seine Be— 
stimmung, im Schlachtgetümmel zu sterben; — aber warum 
auch dieses unschuldige Kind? 
Aeußerlich schien es gar keine Verlehung zu haben; doch 
zeigte sein Gesicht jenen Ausdruck der Schwäche, der immer 
die Folge einer tödtlichen Schußwunde ist. Die nähere 
Untersuchung ergab, daß eine Revolverkugel die Brust des 
Kieinen zerschmettert hatte; sie stack noch in der Brust. Eine 
zweite Revolverkugel war durch des Knaben Unterleib ge— 
brungen und unter dem Kreuze wieder herausgekommen. 
Letztere zog der Rittmeister aus seiner Tasche; sie hatte ihn 
selbst noch unbedeutend am Unterleibe verletzt und war 
zwischen den Kleidern stecken geblieben. 
Beide Kugeln hätten dem Rittmeister den Tod gebracht, 
wenn er nicht den Knaben vor sich auf dem Pferde gehabt 
hätte. In tiefster Erregung kniete er an der kleinen Leiche 
des Franzosenkindes auf dem Boden und bedeckte das schöne 
Besichtchen mit Thränen. Manchem der Garde⸗Reiter ward 
so weh um's Herz, daß er sich abseits schlich und weinte. 
Kurz darauf übergab der Rittimeister seinen kleinen Schützling 
dem alten Bedienten, um ihn seiner in einem am Rhein 
gelegenen Orte wohnenden Mutter zu überbringen, damit sie 
die Leiche des ungekannten armen Knaben, den Schutzengel 
ihres Sohnes, in der Familiengruft beisetzen lasse. Wer muß 
bei dieser Geschichte nicht an Schriftworte wie Ps. 34, 8 und 
Matth. 18, 10 denken: Der Herr der Heerschaaren, der Seine 
Engel Seine Befeble ausrichten läßt, heißt Wunderbar. 
4. Die weiße Rose von Gorze. 
Die gewaltige Schlacht von Mars-la⸗Tour war geschlagen; 
je hatte auch dem 4. Thüringischen Infanterie-Regiment 
——— — 
ser. 72 reiche Lorbeeren eingebracht; seine zweite Kompagnn 
illein hatte nebst fünf Offizieren 172 Todte und Ver— 
pundete, unter letzteren den Premier-Lieutenant Ewald von 
Zedtwitz. Derselbe ward nach Gorze zum Invaliden Antoin So 
zebracht, dem bei Magenta das Bein abgeschossen worder De 
var. Der Held wußte den Helden zu ehren. Dem todeswunden Zur 
Krieger ward hier die liebevollste Pflege zu Theil, und des Der 
Wirthes Töchterlein brachte ihm, der auf einem Strohlager —— 
m offenen Kaufmannsladen zu ebener Erde lag, täglich die 
chönsten Sachen zur Erquickung. Es war am i9. Äuguft Un 
rachdem Tags vorher der König Wilhelm auch die Schlach „T 
bei Gravelotte siegreich geschlagen und die Nacht auf den 
Schlachtfeld zugebracht hatte, als der greise Held vor Zedt 
witz's Hause vorbeifsuhr. Durch das heranbrausende Geraͤusch T 
das donnernde Hurrah von ungefähr 600 Verwundeten, di De 
auf den Straßen lagen, auf das Nahen des Königs auf — 
merkfam gemacht, fchickte v. Zedtwitz, der von seinem Strot So 
ager bercits die ersten Pferde des königlichen Wagens sah Unt 
hin durch den Hornist Ficker die schönste Rose mit der De 
Worten: „Ein schwer verwundeter Offizier, der wohl schwer Op 
uͤch die nächsten Tage überleben wird, schickt Eurer Majestä 
diese Rose als Siegesgruß für Gravelotte!“ Der König „1 
tief erschüttert, befahl dem Kutscher, langsam zu fahren, nahn 
die Rose, fragte nach des Gebers Namen, wünschte demselber 
dankend Besserung, steckte die Rose in's Knopfloch, un 
veiter ging es den unaufhaltsamen Siegeslauf. Ic 
Ewald v. Zedtwitz genas langsam von seinen schweren Is, 
Wunden und ward endlich als Hauptmann und stellvertretende 
Zezirtekommandeur des 1. Bataillons (Halberstadth 3 Nagde Sa 
urgischen Landwehr⸗Regiments Nr. bb hierher verfetzt. DeOb 
traf ain 24. December v. J. (1871) von Berlin aus eu M 
inniges Oelgemälde ein, darstellend einen reichen Lorbeerkranz 
der einen Kriegshelm bedeckt und mit dem eisernen Kreuz“ 
zeziert ist. An dem prachtvollen vergoldeten Rahmen ist oben 
ine massive silberne Rose eingelassen. Folgendes königlich 
dandschreiben an Herrn v. Zedtwitz lag dabei: 
„In dankbarer Erinnerung an den mir unvergeßlicher 
Augenblick, wo Sie schwer verwundet in Gorze am 19e 
August 1870 mir eine Rose nachsandten, und ich, Sie nich 
ennend, an Ihrem Schmerzenslager vorüber gefahren war 
ende ich das beikommende Bild, damit noch in späteren 
Zeiten man wisse, wie Sie in solchem Augenblicke Ihre 
Königs gedachten, und wie dankbar er Ihnen bleibt. Weib 
sachten 1871. Gez. Wilhelm Rex. 22. Dez. 1871“ 
5. Deutsche Treue. 
Eine rührende Geschichte theilte ein Besucher des Schlach! 
eldes von Saarbrücken, wie folgt, mit. Einer meiner Führe! 
dessen zwei Söhne beim 40. Regiment mit im Kampf 
tanden, erzählte mir Folgendes. Er fuhr bei beginnende 
Dunkelheit mit seinen Pferden hinaus, um Verwundete 
zielleicht die Seinigen, aufzunehmen. Fünf hatte er auf der 
Wagen gebracht; der sechsste war der Hauptmann v. Winter 
eld Kaum niebdergelegt, sagte dieser röchelnd: „Nun suche! 
Sie noch meinen Feldwebel, einen braven Mann; den lass 
ch nicht hier!“ Der Wagen war voll, und es war völli— 
dunkel geworden. Mein Begleiter machte die Unmöglichkeit 
den Verwundeten zu finden, geltend. „So laden Sie mit 
wieder ab,“ war die Antwortz „dann will ich sterben, w 
der Feldwebel stirbt.“ — Da war nichts einzuwenden; mi 
hülfe von Zündhölzchen wurde der Feldwebel noch gefunde! 
ind zur Siadt gebracht. Am anderen Tage waren beid 
delden todt. 
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