Full text: Amtlicher Kalender für den Regierungsbezirk Cassel (1874-1884)

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Augen immer voll Wasser. Aber dieser Abend machte 
mich um viele Jahre älter. Limberger's Reden giengen 
tief in mein Herz; denn es war, als wenn er nur für 
mich spräche. Es wurde mir diesen Abend auch klar, daß 
Gottfried und Lene ein Paar waren, dem die Eltern 
ihren Segen ebensowenig wie mir und Sabinen vorent— 
halten würden, wenn Zeit und Stunde kämen. 
Es wurde spät, ehe wir Abschied nahmen; denn ich 
zögerte so lange als möglich. Endlich, es war schon 
Mitternacht, verließ ich, in Thränen gebadet, von den 
Segenswünschen meiner Lieben begleitet, das Haus, um 
mit Limberger auf die Mühle zu gehen, von wo morgen 
früh die Wanderschaft angetreten werden sollte. Lim— 
berger sprach wenig; auch am andern Morgen war er 
sehr gemessen in seinen Worten; aber sie wogen um so 
schwerer. Er geleitete mich noch ein gut Stück; dann 
kniete er mit mir neben dem Wege hinter einer Hecke 
nieder und betete zum Vater im Himmel wie ein treuer 
Elieser. Dann stand er rasch auf und gab mir die 
Hand mit den Worten: „nun, Knappe, sei treu in allen 
deinen Wegen Gott dem Herrn und deinem Herzen! 
Der Herr geleite deinen Ausgang und Eingang!“ 
Hierauf wandte er sich rasch um und ließ mich stehen, 
ohne auch nur einmal nach mir umzublicken. 
Ueber meine dreijährige Wanderschaft gehe ich schnell 
hinweg. Ich überwand bald mein Heimweh, lernte 
etwas Tüchtiges und kehrte nach drei Jahren wohl— 
gemuth heim. — 
Ach wie fand ich Alles verändert! Es war ausgemacht 
worden, ehe ich auf die Wanderschaft gieng, daß Briefe 
nicht gewechselt werden sollten; denn so hatte es mein 
Vater auch gehalten. Nur an Limberger hatte ich einmal 
geschrieben, nachdem ich in einer Muͤhle eine Stelle ge— 
funden, aber keine Antwort erhalten. Jetzt erfuhr ich 
also Vieles auf einmal. Limberger hatte nicht antworten 
können; denn bald nach meiner Abreise hatte er durch 
einen Sturz in den Mühlengraben eine Erkältung sich 
zugezogen, der ein hitziges Fieber folgte, und nach acht 
Tagen war seine Seele eingegangen zu seines Herrn 
Freude. 
Der Vater hätte mich gern zurückgehabt; aber da er 
nicht wußte, wo ich mich aufhielt, so gieng er selbst in 
die Mühle und überließ Gottfrieden die Bäckerei. Aber 
der alternde Vater konnte das neue Leben nicht gewohnt 
werden; er zog wieder zurück und gab endlich die Mühle 
in Pacht. Gottfried hatte geheirathet, und die Eltern hatten 
sich in Ruhe gesetzt. Lenzes und meine Sabine fand ich 
unverändert, nur daß letztere, jetzt 18 Jahre alt, schöner 
und kräftiger geworden war, als ich's erwartet hatte. 
Wie strahlte die Freude aus ihren Augen, als sie meiner 
ansichtig wurde! Wie erröthete sie, als ich ihr die Hand 
reichte und die ihrige so recht in aller Liebe drückte. Es 
war kein Wort von unserer Liebe geredet worden; aber 
wir waren in unsern Herzen Verlobte, und der Eltern 
ZSegen hatten wir auch. Wie gern hätten sie es gesehen, 
venn wir auch ein Paar geworden wären wie Gottfried 
ind Lene. Aber das gieng nicht. Die Mühle war noch 
iuf drei Jahre verpachtet, und der Pächter war zu keinem 
Abstand zu bewegen; die Brauerei von Lenz konnte ich 
ticht übernehmen; denn ich verstand nichts davon, batte 
uuch keine Lust dazu, da ich mit Leib und Seele Müller 
var und bleiben wollte. So herum zu lungern, war nun 
rst recht mir zuwider, und so beschloß ich denn mil 
zustimmung aller Angehörigen, noch einmal hinaus zu 
sehen, nicht gerade als Knappe, sondern in der Absicht, 
»as Mühlenhandwerk in verschiedenen Ländern kennen zu 
ernen. Zwar der Gedanke an eine Trennung von Sabine, 
die mittlerweile meine erklärte Braut geworden war, 
hat mir wehe; aber ich war 20, sie 18 Jahre alt; das 
Wandern hatte mir gefallen; heirathen konnte und wollte 
ch doch noch nicht; — so wurde überwunden und geschieden. 
Vom Grabe meines treuen Limberger aus schied ich 
zum zweiten Male. Jetzt aber gedachte ich zunächst nach 
Rußland zu reisen; denn in Smolensk hatte ich einen 
VBetter, der Bäcker war. Den wollte ich besuchen und 
dabei doch das Müllerwesen kennen lernen. Die Reise 
vollte ich über Hamburg und Lübeck und von da zu 
Schiffe nach Riga machen. Ich gelangte ohne Anstoß 
iach Lübeck, fand auch bald ein Schiff, auf welchem ich 
zie Ueberfahrt machen konnte. Aber ein anhaltender 
tarker Ostwind hinderte das Auslaufen von Tag zu Tag 
von Woche zu Woche. Ich logierte auf der Bäckerherberge, 
veil ein Bäckergeselle Namens Rumpf aus Wettesingen 
m Hessischen, der ebenfalls nach Rußland wollte, mich 
nit dorthin genommen hatte. Aber ich konnte es nach 
4 Tagen nicht mehr aushalten, und meinem Kameraden 
var's ganz recht, als ich ihm den Vorschlag machte, 
vir wollten selbander zu Fuße nach Rußland gehen. Wiu 
nachten uns auf der Stelle auf und zum Thore hinaus— 
Kielleicht gieng zu derselben Stunde ein Brief mit der 
Post zum Thore hinaus, in welchem ich meiner Sabine 
jemeldet hatte, daß folgenden Tages das Schiff sichern 
abgehen, und ich mit demselben nach Osten fahren würde 
Kaum waren wir eine Strecke gegangen, als mein 
damerad, der ein gar getreuer Mensch war, und dem ich 
ille meine Umstände, namentlich meine Liebe zu Sabinen 
erzählt hatte, stehen blieb und sagte: „höre, Kamerad, 
nan sagt, Bettelleute und Spaziergänger machen keinen 
Umweg. Da wir nun beide so eine Art Spaziergänger! 
ind, wie wär's, wenn wir unsern Weg über Cinbech 
iähmen, und du mir erst einmal deinen Schatz zeigtest? 
Wie jubelte mein Herz über diesen Vorschlag! Aber doch 
onnte ich nicht Ja dazu sagen. „Ei was?, entgegnete 
ch schmunzelnd, „was würden meine Leute dazu fagen? 
Ich würde ausgelacht werden wie Peter in der Fremde— 
Rein, Kamerad, kommen wir von unserm Spaziergange 
zurück, dann sollst du mit bei der Hochzeit sein, j 
Brautführer werden, wenn du meiner Sabine anstehst. 
uuch von der jungen Frau einen Kuß in Ehren haben; 
iber jetzt vorwärts nach Morgen.“ 
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