Full text: Amtlicher Kalender für den Regierungsbezirk Cassel (1874-1884)

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Unterhaltendes und Belehrendes. 
Ein Handwerker nach dem Herzen Gottes. 
Daß der Kalenderschreiber unser liebes Hessenland die 
dreuz und die Quere oft durchstreifte, braucht er wohl 
laum zu versichern. Eine Geschichte, die er einst auf einer 
solchen Streife erlebte, will er heute erzählen. 
In dem heißen Sommer 1857 trat ich aus dichtem 
Walde in ein frisches Thälchen, das mir bis dahin unbe— 
kannt geblieben war. Hier war Alles frisch und grün, 
während allerwärts sonst die Hitze verderbend gewirkt hatte. 
Daß diese Wiese so saftig und frisch war, kam daher, daß 
eine über derselben entspringende Quelle, die niemals ver⸗ 
siegt, von dem Besitzer getheilt an beiden Seiten der Wiese 
unter dem Schatten des angrenzenden Waldes herab und 
in unzähligen kleinen Gräbchen in die Wiese geleitet worden 
ist. Waͤhrend die Quelle siark aus der Erde tritt, ist sie 
unterhalb der Wiese nur ein ganz schmales, schwaches 
Streifchen, da sie ihr Bestes an die Wiese abgeben mußte. 
Außerdem war aber die Wiese mit so kräftigen Berg— 
pflanzen bewachsen, daß auch bei mangelnder Feuchtigkeit 
wohl die Spuren der Hitze nur unbedeutend hätten sein 
können. Der glückliche Besitzer sorgte aber nicht bloß für 
seine Pferde und Kühe, indem er diese Wiese pflegte; 
er genoß sicher selbst hier Stunden reiner Freude und 
stillen Gluͤckes. 
Zwar von einer Anlage, die zu diesem Schluß berech⸗ 
tigt haͤtte, war, oberflächlich betrachtet, nichts zu sehen; 
aber als ich eine Weile geruhet, entdeckte ich doch unver⸗ 
kennbare Spuren einer ordnenden Hand, gerade an dem 
Plätzchen, wo ich saß. Die Felsstücke bildeten ein ver— 
worrenes Durcheinander; aber doch waren sie so gelegt, 
daß sie überall bequeme Sitze bildeten. Bequem waren 
sie; denn sie waren mit Moos reich überwachsen, und einige 
Epheuranken schmückten sie sogar. Auch an der starken 
Buche, die ihre Aeste über dies Plätzchen ausstreckte, war 
Moos und Epheu hinangeklettert, die gewöhnlich lieber 
an Eichen und alten Mauern sich anklammern. 
Das Platzchen war aber auch wunderschön nicht bloß 
der nahen uͤnd nächsten Umgebung wegen, sondern auch 
die weitere Aussicht von hier war erquickend und reizend. 
Der Blick schweifte über den niederen Vorwald hinaus, 
zunächst auf einen Basaltkegel, der mitten im Felde des 
nächsten Dorfes sich erhebt; über den hinaus prangte der 
Hochwald in üppiger Frische seiner Buchen und Eichen, 
und gerade aus öffnete sich dem Blicke die Aussicht in eine 
reiche mit Dörfern und einzelnen Höfen besäete Lands chaft. 
Wahrend ich mich so ganz dein Wohlbehagen hingab, 
aahete ein graues Maͤnnlein, aus dem Walde kommend. 
Er war klein, gebückt, ganz grau gekleidet und mit einer 
rroßen Spitzhacke ausgerüstet. Das Männlein schien mich 
erst gar nicht zu bemerken; ich rief ihn aber an: „guter 
Leund, wo hinaus?“ Das Mäannlein richtete sich auf und 
kam auf mich zu. Er war so gar klein nicht, aber das 
Besicht zigeunergelb, das Haar pechschwarz und struppig 
anter der Mütze herunterhängend, und ein paar glänzend 
schwarze Augen schauten unter dunkeln und struppigen 
Brauen heraus. Der Mann grüßte freundlich und fragte 
urück: „Gefällt's Euch hier, mein Herr?« Als ich 
hm diese Frage freudig bejahete und auf die Schönheiten 
aieses Punktes hinwies, erheiterten sich sichtlich seine Züge, 
md zutraulich ließ er sich in meiner Nähe auf einer der 
Moosbänke nieder. 
„Ach jau, sagte er, „hier hat der liebe Gott ein gar schönes 
Fleckchen seiner Welt. Hier kann man die Menschen ganz 
dergessen!“ Dabei schaute er mit einem Blicke in das Laub— 
dach, in welchem sich Schmerz und Dank zugleich aussprach. 
Der. Mann ging bereitwillig auf ein Gespräch ein, 
velches ich mit ihm anknüpfte. Er nannte mir die Orte 
der vor uns liegenden Landschaft, die einzelnen Berg⸗ 
uppen und Waldreviere und wußte überall Bemerkungen 
einzustreuen, die den erfahrenen Mann erkennen ließen. 
Aber der Mann hatte eine Art zu sein und eine Aus⸗ 
Pprache, wie sie bei unsern Bauern nicht gewöhnlich ist; 
cch bemerkte bald, daß er ein geborener Niederdeutscher 
sein müsse; denn wenn er auch nicht das reine Plattdeutsch 
sprach, so war doch die reinere Aussprache der Vocale 
ind Zischlaute ein unverkennbares Merkmal seiner Mutter⸗ 
prache. 
Als ich ihm diese Bemerkung mittheilte, antwortete er: 
allerdings bin ich hier nicht geboren; meine Wiege stand 
n Einbeck im Hannover'schen. Und wenn Sie gerade hier 
iber den Berg da hinblicken, schauen Sie in die Gegend 
»on Einbeck; etwas weiter rechts kann man oben auf dem 
Berge bei hellem Wetter und mit gutem Auge die blaue 
—AAV 
ange Jahre nicht mehr gesehen; denn wenn ich hinschaue, 
ritt mir eine Thräne in's Auge, und es wird mir trübe 
m Herzenu. 
Und wirklich wurde auch jetzt des Alten Auge feucht, 
und ein Seufzer ließ sich nicht unterdrücken. — 
Nach einer längeren Pause redete ich meinen Alten 
vieder an und richtete an ihn die Frage, wie es doch ge⸗ 
tommen sei, daß er von Einbeck hieher ausgewandert. 
„Gerne will ich Ihnen das erzählen“, versetzte er, „wenn 
Sie Geduld haben wollen, eine lange und traurige Ge— 
chichte zu hören“. Und ohne meine Antwort zu erwarten, 
jub er also an: 
„Ich bin, wie ich Ihnen schon erzählte, in Einbeck 
zeboren; mein Vater war Bäcker und ein sehr wohl— 
tehender Mann; die Mutter war eine sanfte Frau, die 
zuweilen von des Vaters Heftigkeit zu leiden hatte, aber 
doch eigentlich das Regiment fuͤhrte, wenigstens in Ver⸗ 
legenheiten, aus welchen der Vater sich nicht zu helfen 
oußte, das Wort sprach. Finen ganz besonderen
	        
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