Full text: Amtlicher Kalender für den Regierungsbezirk Cassel (1874-1884)

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Zu Haufe ist sie nicht, da war ich schon, wo ist sie 
in von Euch?“ 
„Sie ging durch das Gärtchen nach der Pforte zu; ich 
neinte, ihr hättet euch etwa bestellt unter der Linde; denn 
sa sah ich Jemanden bei ihr.“ 
Fort stürzte Martin nach der Linde, und als er hier 
liemanden fand, mit banger Ahnung immer in größerer 
hast der Firnskuppe entgegen. 
„Ach, Gott sei gedankt! rief ihm Lieschen entgegen, er 
rhört Gebete! Eile Martin, die Marie Sophie steigt 
n die Firnskuppe, um das Wunderkräutlein zu pflücken, 
von dem du erzählt!“ 
„Allmächtiger Gott,“ stieß Martin hervor, „sei uns 
‚och gnädig und barmherzig!“ Sein Herz schlug hörbar; 
voch in rasenden Sätzen sprang er den steilen Kopf hinan 
ind stand an dem grausenhaften Loche. Da hing an einem 
felsenzacken Marie Sophiens Tuch, von ihr war nichts 
u sehen. Mit letzter Anstrengung und in Todesangst rief 
r: „Marie Sophie!“ Er lauschte, — keine Antwort. Er 
ückte sich zur finftern Höhle: „Marie Sophie!“ — keine 
Intwort. Die Augen wollten ihm aus dem Kopf treten. — 
horch! vernahm er nichts? Ja, es war ein schwerer 
Zeufzer, der von dem Grunde der Höhle aufstieg! 
»Großer Gott!“ rief Martin aus, „jetzt hilf mir; es gilt 
icht mehr meiner Liebe, es gilt, eine arme Seele zu retten !a 
Lieschen, die eben auch herrannahete, rief er zu: „eile 
eim und laß' alle unsere Kameraden kommen und Luken⸗ 
eile mitbringen, so viel sie können. Marie Sophie ist 
inabgestürzt; ich steige hinab, sie zu retten.“ 
Und schon stieg er in die Firnskuppe. 
Lieschen eilte, was sie konnte, um den Auftrag auszu— 
ichten. Aber wie sie auch jammerte und bat, es wollte 
lufangs Niemand glauben; sie mußte erzählen und wieder 
rzählen, und eine Stunde verging, ehe sich die Kameraden 
den Lukenseilen auf den Weg machten. Das ganze 
orf war alliälig in Alarm gekommen. Eine Laterne 
der andern schwebte dem Walde zu. Auch der alte 
per Jordan hatte sich aufgemacht, um mit seinem 
athe bei der Hand zu sein. 
Als er auf der Firnskuppe ankam, schauderte auch er, 
und tiefe Wehmuth ergriff sein Herz. Da standen die Bur— 
hen und Maodchen, besinnungslos die Einen, laut weinend 
e Andern. Auf ihr Rufen in die Tiefe keine Antwort. 
„Ach,« rief Lieschen aus, „auch Martin ist hinabge— 
urzt! Ich habe gefehen, wie er hinabstieg!“ 
t dordan ließ sofort die Lukenseile an einander binden 
nd in die Tiefe hinablassen. 
ae dass das Seil an, Martin, daß wir dich heraufziehen!“ 
fman hinab. Aber es kam keine Antwort, und das Seil 
urde nicht erfaßt. 
ꝛr „Wer von euch wagt es nun, sich hinabzulassen und den 
e Martin heraufzubringen in seinen Armen?“ fragte 
n. 
Ich! Ich! Ich!“ riefen alle. 
ordan wählte den stärksten und besonnensten der 
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zursche aus; dann kniete er mit ihm nieder, entblößete 
ein schneeweißes Haupt und betete so inbrünstig für die 
Armen da drunten und für den, der sein Leben daran 
vagen wollte, sie zu retten, daß Alle um ihn her sich auf 
zie Kniee warfen und lautes Schluchzen sich erhob. Vor 
Thränen konnte Jordan kaum Amen sagen. Dann stand 
ꝛr auf, legte dem treuen Curt die Hand auf's Haupt und 
prach: „Der Herr sei mit dir; er thue Befehl seinen 
kngeln über dir, daß sie dich auf ihren Händen tragen, 
ind du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest!“ 
Dann wurde ihm das Seil unter den Armen um die 
Brust befestigt und er hinabgelassen. 
Lautlose Stille trat ein; jetzt hörte man leise Seufzer 
uus der Tiefe. 
Bald rief Curt: „Ziehet!“ 
Sorgsam wurde das Seil mit seiner Last heraufgezogen, 
ind nach einiger Zeit der bangsten Erwartung kam Curt 
um Vorscheine, in seinen Armen Martin haltend. 
Lauter Jammer der Kameraden erhob sich, als sie den 
Todten sahen. Denn für todt mußte man ihn halten, da 
ein Kopf hinten über und seine Arme kraftlos herabhingen. 
And wie war er entstellt! Eine tiefe Spalte zog sich quer 
iber den Kopf und klaffte weit; die Augen waren halb 
Jeschlossen, und vor dem Munde stand blutiger Schaum. 
Sanft wurde er niedergelegt in's weiche Moos. Jordan 
uchte ihm Wein einzutraͤufeln, den er vorsorglich mitge— 
racht hatte; aber es war vergebens. Nur von Zeit zu 
Zeit hob ein Athemzug seine Brust, und ein schwerer 
Seufzer drang aus seinem Munde. 
Als Curt nach kurzer Rast wieder hinabgelassen wurde, 
interbrach ängstliche Stille den lauten Jammer und das 
unterdrückte Schluchzen an Martins Seite. 
Aber siehe, Marie Sophie war nicht todt! Sie hatte 
hre Arme fest um Curt's Hals geschlungen, und ihre 
Augen waren weit geöffnet. Als man sie niederließ, fiel 
Moͤos und Erde aus ihrer Hand und vernehmlich rief 
sie: „Martin! Martin!“ 
Als sie ihn nicht fand, flogen ihre Augen irre im Kreise 
der weinenden Kameraden umher. Endlich fanden sie, 
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dringender Stimme, mit unsäglichem Schmerze und stürzte 
über den Leichnam des Geliebten. 
Und siehe! Martin öffnete noch einmal die Augen, seine 
Arme umschlangen die Geliebte. Dann hauchte er in 
einem langen Seufzer seine Seele aus. Man hob Marie 
Sophie auf — auch sie war todt. 
Tief erschüttert standen Alle. Da ergriff der alte Jordan 
das Wort. Er wollte strafen; aber er konnte nicht. Mit 
zitternder Stimme betete er: „Herr, behalte ihnen ihre 
Sünde nicht! Herr, führe uns nicht in Versuchung! Ach 
Herr, Herr, sei uns gnädig und barmherzig! Amen.“ 
Dann ließ er Aeste abreißen und zwei Bahren machen. 
D'rauf wurden die Verungluͤckten gelegt und neben einander 
n's Dorf getragen. 
Es war ein jammervoller
	        
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