Full text: Amtlicher Kalender für den Regierungsbezirk Cassel (1874-1884)

Litwe ihre Stütze zu rauben, droben im Himmel sei doch 
in Herr, größer als König und Kaiser, dem habe er ver— 
hrieben Leib und Seele, und deß sei er gewiß, er werde 
v wohl machen. Sei eine Kugel für ihn bestimmt, nun 
Hfönne er ihr nicht entfliehen; dann aber werde der Herr 
uf dem Himmelsthrone sorgen für seine liebe Mutter 
ech viel besser, als er's gekonnt. — 
Ueber solche und ähnliche Dinge gab's also genug zu 
dden. Wozu sollten sie sich auch sagen, daß sie einander 
ern hätten? Das wußten sie ja, darüber bedurfte es 
fuer Worte. — 
Aber es hat Alles seine Zeit. So kam auch für Marie 
Sophie und Martin die Zeit, daß sie reden mußten von 
srer Liebe. 
Es war im Herbste. Ach und der Herbst war so schön. 
uusere prächtigen Wälder hatten schon angefangen sich zum 
Linterschlafe zu rüsten; die Blätter waren gelb und braun 
und wenn der Wind durchzog, dann sank leise ein Blättlein 
hach dem andern nieder. 
Zum letzten Male wollten die jungen Leute an der Firns⸗ 
—* zusammen kommen. Martin saß heute nicht unter 
er Eiche. Er war höher hinaufgestiegen. Und als nun 
lugend die Kameraden herangezogen kamen, da rief er 
nen zu, herauf zu kommen zu ihm. 
Und wahrhaftig, da oben war's schön! Dadurch, daß 
ob Laub schon dünner geworden, war die Aussicht freier. 
eshalb hatte Martin seine Kameraden heute hier oben 
auf die Spitze der Firnskuppe bestellt. Als sie nun sämtlich 
hagekommen, trat er auf das höchste Felsstück und zeigte 
uen die ganze schöne Gegend. Vorn in der Mitte liegt 
Lassel, d'rüber und d'runer erscheint die Fulda als ein 
ad breiteres, bald schmäleres Silberband, welches unter 
Söhre herausflatternd, dort unten beim Sandershäuser 
erge verschwindet, um bei Münden sich mit der Schwester 
Herra zur Weser zu vereinigen. Dann zeigte und nannte 
alle Höhen und Thäler, Städte und Dörfer seinen Zu— 
Ien und knüpfte an jeden Ort eine kurze Beschreibung 
r Erzählung. 
he Indlich aber lud er ein zum Sitzen und erzählte nun 
nSeschichte der Firuskuppe selbst. Die ist hohl. Es soll 
ein feuerspeiender Berg gewesen sein. Das wußten sie 
* schon alle; denn sie alle hatten wohl schon an dem 
9 welches die Gelehrten Krater nennen, gestanden und 
we hineingeworfen. Die sprangen von Fels zu Fels, 
. Absatz zu Absatz; immer schwächer wird der Schall 
W hört er ganz auf in der grauenvollen Tiefe. 
ud doch, hob er an, so tief auch der Krater ist, dennoch 
nanmal Einer hinabgestiegen ohne Leiter, ohne Strick, 
u⸗ e daterne, blos mit seinen Händen an den Felszacken 
ue datend und ebenso wieder herausgekommen. 
— — rief Marie Sophie aus, das kann ich nicht 
voch en! Was sollte um Gottes Jesus willen eine Christen⸗ 
twe a bewegen können, hinabzusteigen in dieses offene Grab! 
ind 9 erzähle davon nichts, es gruselt mir. 
den! Als sie noch sprach, kaim einer hrer Knechte und brachte 
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hr die Nachricht, es sei ein Gast in ihres Vaters Hause 
aingekommen; deshalb solle sie sofort nach Hause kommen. 
Ungern hörte Marie Sophie diese Nachricht. Als aber 
as Sticheln und Utzen anfing von wegen des Freiers, der 
vohl gekommen sein möchte, schlug sie ein Schnippchen, 
ind nach einem freundlichen Blicke auf Martin, drehte sie 
ich auf dem Absatz herum und flog hinab dem Dorfe zu. 
Dem Martin aber war die Butter vom Brode gefallen. 
Marie Sophie war ihm noch nie schöner vorgekommen als 
seute, und seine Erzählung sollte eigentlich nur für sie sein. 
Nun hatte sie nichts davon hören wollen und war so weg⸗ 
serannt, als wenn's mit dem Freier gar sehr pressire; aber 
im nicht geutzt zu werden, begann er dennoch seine Erzäh— 
ung. Aber sie war trübe und wehmüthig. Er erzählte, 
vie ein Bursch ein Mädchen geliebt, das ihm aber der Va— 
er nicht geben wollte, und wie der Bursch von einer Zigeu⸗ 
nierin erfahren, hier in der Firnskuppe wachse auf dem 
Hrunde der Höhle ein Kräutlein, welches, bei Neumond ge⸗ 
oflückt und dem Widerstrebenden heimlich beigebracht, jeden 
Widerspruch hebe. Der Bursch habe in toller Liebe sich 
sinabgewagt, habe aber das Kräutlein nicht gefunden. Der 
Vater des Mädchens habe aber gedacht: „ist der Mensch 
aus Liebe zu deiner Tochter zu solcher Verwegenheit fähig, 
so fängt er am Ende etwas Tolleres noch an⸗ und habe 
eine Einwilligung zur Heirath der Liebenden gegeben. 
„Treue Liebe, hatte Martin hinzugesetzt (und dies war's, 
vas Marie Sophie besonders hören und beherzigen sollte), 
iberwindet jedes Hinderniß. Aber es ist Verrücktheit, ein 
olches Wagestück zu begehen, wie ich eben erzählte. Unser 
Herr Gott kann die Menschenherzen lenken wie Wasser— 
zäche, und wenn wir mit kräftigem Gebete zu ihm rufen, 
o haben wir keine Zaubersprüche, keine Zauberkräuter und 
nichts dergleichen nöthig. Erhöret aber der treue Herr 
nicht, nun so soll unser thörichtes Herz nicht murren, nie— 
nals widerstreben, sondern in Geduld und Ergebung sich 
assen! Denn wie's der Herr macht, so ist's am beßteu!“ 
Martin's Stimme war weich geworden. Es war ihm 
chwer um's Herz, er wußte nicht warum. 
Nur langsam gewannen die jungen Leute, von Mar— 
in's Wehmuth angesteckt, ihre Munterkeit wieder. Dann 
iber wurden sie, wie das so oft geschieht, um so munterer 
ind ausgelassener in ihrer Freude und Lust. Martin in 
hrer Mitte zogen sie hinab dem Dorfe zu, gefolgt von der 
Schafherde. Laut schallte der Gesang, und manche Mutter 
chaute stolz hinter dem Fenster, als die jungen Leute vor⸗ 
iberzogen, wenn sie sah, wie ihr Sohn oder ihre Tochter 
röhlich in der Mitte der lustigen Sänger einherging. 
Marie Sophie stand auch hinter dem Fenster. Aber ihre 
Augen waren voller Thränen. Es war wirklich ein Freier 
dagewesen, ein reicher Bauer über Cassel her, aber auch 
zin rechter grober Klotz, dem man ansah und anhörte, wie 
hm nur gelegen sei an des Mädchens Vermögen; darum 
jatte er auch um Mutter und Tochter sich wenig bekümert, 
dem Jörg aber ganz absonderlich gefallen. 
Der war mit ihm nicht nur in den Ställen gewesen,
	        
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