Full text: Amtlicher Kalender für den Regierungsbezirk Cassel (1874-1884)

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Martin, denk' nur immer daran, ein tüchtiger Schäfer zu 
verden und schlag dir alles andere aus dem Sinn!“ 
Martin verstand seinen Vater nicht und fragte auch 
iicht weiter. Bald sollte er ihn verstehen lernen. — Bald 
vurde er ihm plötzlich auf grauenhafte Weise entrissen. 
An einem schwülen Junitage war der Vater mit seiner 
deerde an den Fuß der Firnskuppe gezogen, wo Jörg große 
Viesen hatte, um, wenn's Noth thäte, auch beim Heu—⸗ 
aden zu helfen. Und wie er erwartet, so geschah's. Denn 
as Heu war kaum dürr und in Walzern gesetzt, so erhob 
ich hinter dem Dörnberge eine schwere Wolkenwand, die 
neinem starken Gewitter sich zu entladen drohte. Im 
alopp kamen Jörg's Knechte mit zwei Wagen angejagt; 
MNartin lud den einen Wagen, der Großknecht den andern, 
md Martins Vater half den Taglöhnern gabeln und nach⸗ 
rechen, während seine beiden Hunde die Heerde bewachten. 
v s gelang mit knapper Noth beide Fuder zu binden, ehe 
die ersten schweren Tropfen fielen, und als Martin an dem 
deubaum hing, eilte sein Vater, seine Heerde an einen 
eschützten Ort zu treiben. Eben ging er unter einer mäch— 
igen Eiche hin, als ein Blitz in dieselbe fuhr. Ein ab— 
erissener Ast schlug ihm auf den Kopf, daß er niedersank. 
Martin hatte durch Sturm und Donner des Vaters Schrei 
ehört und war mit größter Eile dem Unglücksorte zu— 
eeilt; alle Heumacher folgten ihm, während die Knechte 
mit den Heufudern so rasch als möglich davon fuhren. 
Marie Sophie war zum ersten Male nach ihrer Con— 
irmation mit in's Heu; deshalb hatten sie die Heumacher 
ehänselt, d. h. sie halten ihr einen Blumenstrauß mit 
mgen Flatterbändern an den rechten Arm gebunden. Sie 
aAgte Martin auf dem Fuße, während die Bänder weit 
inter ihr her im Winde flogen. Als sie unter dem Baume 
mkam, hatte Martin seinen Vater im Arme und suchte 
as Blut, welches aus der rechten Schläfe floß, mit seiner 
dand zurückzuhalten. Marie Sophie rieß die Bänder 
ib und band sie um das kraftlos sich hin und her be— 
degende Haupt. 
Vergebens! Noch ehe sie mit ihrem Verbande fertig war, 
auchte der Schäfer seinen letzten Seufzer aus. Aber die 
linder wollten nicht glauben, daß er todt sei. „Wenn 
nr Blut sich stillt⸗, sprach Martin, „dann erwacht der 
ater aus seiner Ohnmacht.“ 
„So saßen und hofften sie noch, als Jörg mit einem 
8— Wägelchen augefahren kam, um den Verwundeten 
i holen. 
Sorgsam wurde er aufgeladen und behutsam heimge—⸗ 
ren; als man ihn aber vom Wägelchen in's Haus trug, 
* er schon starr und steif. Mutter und Kind vermischten 
e Thränen mit dem Blute des geliebten Todten, und 
Aeg vee mit Mühe seine Marie Sophie mit sich in 
of. — 
dNachdein Martius Vater begraben, sprach ghrg mit der 
uter desselben, was nun werden solle, und sie machten 
wp . daß Martin an seines Vaters Statt Jorg's Schäfer 
erden und denselben Lohn beziehen sollte. — 
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Der Tod des Schäfers war dem Jörg nahe gegangen; 
denn er war ein getreuer Mensch gewesen; und wäre 
Martin nicht eben so treu und anstellig in jeder Art gewesen, 
der Jörg hätte wohl manche schlaflose Nacht gehabt. Als 
es aber nun mit Martin als Schäfer sehr gut ging, der 
Flurschütz keine Bußen einzuschreiben und Niemand über 
das Abhuͤten und Schnäcken der Schafe zu klagen hatte, 
als Jörg sah, daß er sich bei Martin besser noch stand, 
als bei seinem Vater, da war's ihm doch im Grunde s eines 
Herzens lieb, daß er auf gute Manier den Martin aus 
dem Hause los geworden war. Denn als er dort an der 
Firnskuppe seine Marie Sophie mit dem Martin bei der 
Leiche des Schäfers getroffen hatte, war ein böser Ge⸗ 
danke durch seinen Kopf gefahren: „wenn das Mädchen 
sich in den Jungen vergafft hätte!“ 
An eben diesem Tage war aber auch dem Martin ein 
ahnlicher Gedanke durch's Herz gegangen: „die Marie 
Sophie ist die beste Seele, die es giebt!“ Was er weiter 
an diesen Gedanken reihete, darüber gab er erst viel später 
sich Rechenschaft. Jetzt füllte das Streben, ein treuer tüch— 
liger Schäfer zu sein, wie sein Vater, seine ganze Seele. 
Und er bracht's weiter als sein Vater; er hatte mehr 
Grütze als dieser. Bald war er kundig jeder Krankheit 
seiner Thiere und der Mittel dagegen; bald war er ein zu⸗ 
berlässiger Wetterprophet, und nach einem Jahre war er 
der geschickteste Viehdoctor weit und breit, so daß er mit 
diesem Doctorn weit mehr verdiente, als mit seinem Schaf⸗ 
hirtenamte. — 
Und noch eins war's, wodurch er sich vor seinem Vater 
ind vor den meisten seines Geschäfts, überhaupt auch 
seinen Kameraden auszeichnete: er trank keinen Brannt—⸗ 
vein! Er pflegte freundlich aber bestimmt zu sagen, wenn 
nan ihm zutrank: „der Brauntwein ist ein Schurke; 
venn man Branntwein getrunken hat, dann kann 
man nicht beten!“ 
So war Martin so recht seiner Mutter Freude und 
Stütze. Im nächsten Sommer schon ließ er sein Häuschen 
inwendig und auswendig zurechte machen, daß es aussah, 
vie ein Puppenschränkchen; dann wurde um das Gärtchen 
eine Staketenwand gezogen und jede freie Stunde benutzt, 
jedes Plätzchen darin auf's Beste zu verwenden. 
Seine Mutter wurde ordentlich stolz auf ihren Martin. 
Sie kleidete ihn hübscher als die Söhne der reichsten Bauern, 
wenn auch mit der größten Einfachheit und Sparsamkeit. 
Martin war groß und schlank geworden, und wie Marie 
Sophie das schoͤnste Mädchen war weit und breit, so war 
er der schönste Bursche. Und wenn er an der Spitze sei— 
ner Heerde durch's Dorf zog, zu beiden Seiten seine zot— 
igen Gesellen, Strom und Wasser, dann guckte um manche 
Ecke ein Mädchengesicht dem stattlichen Martin nach. Die 
Burschen sagten ihm scherzend nach, er habe deshalb das 
schöne Schellengeläute sich angeschafft, um den Mädchen 
den Kopf zu verdrehen. 
Aber das sagten sie nur, ihn zu utzen. Und nicht ein— 
mal recht utzen mochten sie ihn; denn sie waren ihm alle
	        
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